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Meister über die Illusionen des Lebens, stürzte er sich jung und schön in das Leben, die Welt verachtete er, aber er bemächtigte sich ihrer. Sein Glück konnte nicht jene bürgerliche Glückseligkeit sein, die sich mit einer regelmäßigen Suppe zufriedengibt, einer molligen Wärmflasche im Winter, einer Lampe für die Nacht und mit allvierteljährig neuen Pantoffeln. Nein, er packte das Leben wie der Affe eine Nuss, und ohne langes Federlesen entfernte er geschickt die gewöhnlichen Hüllen der Frucht, um ihren köstlichen Kern zu genießen. Die Poesie und die erhabenen Aufwallungen der menschlichen Leidenschaft reichten ihm nicht weiter als bis zum Spann. (Balzac: Das Lebenselexier, 166)

Der junge Mann, den Balzac hier in seiner Novelle Das Lebenselixier beschreibt, ist der Prototyp des Glücksritters des Frühkapitalismus, der als Adelsspross sich zwar noch nicht der öden Betriebsamkeit unterwerfen musste, der noch nicht mit ängstlichen Blick auf die Konkurrenz sparsam akkumulierend vor sich hin wurstelte, und somit Unternehmer im kapitalistischen Sinne wurde, sondern Unternehmer der Liebe war, für die immer noch galt, dass es für sie sich zu ruinieren, zu leben und zu sterben lohnte. Um Herr über das Fürstentums seines Geschlechts zu werden, musste Don Juan jenes allerdings erst erben. Sein Vater hatte ihm nicht den Gefallen getan, früh abzutreten, sondern war ein geiziger Greis, der im Laufe seines Lebens als Handelsreisender im Orient zu einem großen Vermögen gekommen war, und dieses wie einen Schatz hütete. Zu allem Überfluss eröffnete der alte Fürst seinem verhätschelten Sohn an seinem Sterbebett, dass er ein Elixier besäße, welches ihm ein zweites Leben ermöglichte, wenn Don Juan ihm nach seinem Tod ihn damit einriebe. Aber: Jedem warmherzigen und sparsamen Vater einen kalten und verschwendungssüchtigen Sohn, und umgekehrt. Don Juan, der den Tod seines Vaters ja ersehnt hatte, tupfte nur einen Tropfen dieses Elixiers auf ein Auge des bereits erkalteten Alten, um es zu testen. Als das Auge sich zu bewegen begann, drückte er es ein. Er beerdigte den Alten und nahm das Elixier an sich, um selber vorzusorgen für den Falle seines Todes, vom verschwendungs- und vergnügungssüchtigen Sohn wurde er zum rationalen Planer seines Vergnügens, seines zweiten Lebens und seines Vermögens:

Nach einer Bestandsaufnahme der ungeheuren Reichtümer, die der alte Orientreisende zusammengetragen hatte, wurde Don Juan geizig. Musste er sich nicht für zwei Menschenleben mit Geld versorgen? Sein tiefgründig forschender Blick drang in das Prinzip des gesellschaftlichen Lebens ein und erfaßte die Welt um so besser, da er sie durch ein Grab hindurch sah.

Er war nun Herr über das Fürstentum, „jung und schön“ stürzte er sich in sein neues Leben, um es in vollen Zügen auszuschöpfen, ohne allerdings je menschliche Leidenschaften in ihren „erhabenen Aufwallungen“ zu empfinden. Es ist zwar bekannt, dass die meisten Menschen nach einem Lottogewinn meist ihr normales Leben weiterleben, vielleicht ihr Reihenhäuschen gegen ein Einfamilienhaus eintauschen, aber die Fälle, wo das gewonnene Vermögen in kurzer Zeit verprasst wird, sind immer noch für eine Schlagzeile gut. Der Mensch braucht also Reichtum und Unabhängigkeit, um sich von der alltäglichen Unsicherheit der eigenen Versorgung durch ein Arbeitsverhältnis zu emanzipieren, um bspw. wie Don Juan das Leben eines Playboys zu führen. Allerdings ist damit kein freies Leben mit freier Tätigkeit garantiert, vielmehr ist es schon die historisch spezifische Form des Reichtums des Geldes als Kapital, das eine Erweiterung und Ausdehnung der Genüsse ohne Berechnung unmöglich macht. Die äußere Form des gesellschaftlichen Reichtums zwingt zur Berechnung, zur rationalen Planung der eigenen Genüsse, die Form, wie es Wolfgang Pohrt so treffend ausdrückte, lässt ihren Inhalt nicht ungeschoren.

Die Liebe war, das wussten die Menschen seit sie Handel trieben, etwas Wert. Sie war etwas Wert, weil sie in ihren schönsten Momenten eigentlich unbezahlbar war; sie war ein wertvolles Handelsgut, weil sie über das Bedürfnis hinausreichte, weil sie ein Luxus war, der Leidenschaften entfachte und somit die Existenz zum Leben nobilitieren konnte. Dieser evidente und stets vorausgesetzter Sinn, der als solcher ebenso unhinterfragbar wie nicht thematisierbar war, war bereits mit Anbruch der Moderne, dem Zeitalter der Entzauberung der Welt, nicht mehr selbstverständlich. Zwar war Liebe früher als andere Dinge zur Ware geworden, nicht umsonst sprich man bei der Prostitution vom ältesten Gewerbe der Welt, aber sie verlor ihre „Poesie und die erhabenen Aufwallungen der menschlichen Leidenschaft“ ihren einzigartigen Luxuscharakter erst als die unaufhaltsame Registriermaschine des Kapitals auch mit der Inventarisierung aller alltäglichen und banalen Gegenstände und Entitäten, von der Schraube bis zum Brot, begann und sie zu Dingen mit Tauschwert verwandelte, die auf Märkten gehandelt werden konnten. Sie sog die menschliche Welt ein wie ein schwarzes Loch, um am anderen Ende desselben eine andere auszuspucken. In dieser Welt waren alle Dinge, auch die Liebe, gleich vor ihrem Preis. Der junge Entrepreneur, Produkt der neuen Zeit, aber noch nicht mit ihr eins, ging deshalb die Liebe an, „wie der Affe eine Nuss packte“, die Betriebsamkeit der neuen Zeit hatte ihn bereits am Genick, nur konnte er wegen seines großen ererbten Vermögens die Beschäftigung mit Schrauben, Brettern oder Kühlschränken noch zugunsten der Liebe vermeiden, aber er handelte schon wie ein Kapitalist handeln muss: Steigerung der Produktion, um den Gewinn zu steigern, um mehr Geld aus dem investierten Geld zu machen. Er hatte die Qualität gegen die Quantität getauscht, „weil er nur ‚die Frau‘ in den Frauen liebte“, wie der Kapitalist nur den Wert in den Waren liebt, seinen "Goldlaib", der sich nur mühsam im Zirkulationsprozess vom Produkt abscheiden ließ, nur um ihn wieder wie von Sinnen in den Produktionsprozess zu werfen. So versuchte dieser Entrepreneur der Liebe seine Liebesabenteuer ins Unendliche zu steigern, um die Qualität der Liebe einzuholen und von ihrem verblassenden Abglanz jenes Licht zu erhaschen, welches er und seine Zeitgenossen ihr selbst ausgeblasen hatten, „...von dem Augenblick an wurde er DON JUAN.“

Nach Pohrts Diagnose der Theorie des Gebrauchswertes, dass der Kapitalismus seine Differenz wegproduziert hat, dass somit seine Reflexion in der Politischen Ökonomie wie auch seine Kritik zur Anthropologie wurden, schrieb er als Ideologiekritiker vor allem gegen die Scheindifferenz, die vor allem in den Köpfen der Linken nach '68 herumspukte an und die den alten Hut des Gemeinschaftskitsches, des Echten, des Natürlichen und der Friedensbewegung in all seinen Derivaten als Verfallsform der Studentenrevolte hervorzauberte und der Realität entgegenstellen wollte. Die Vorstellung von Liebe war nur eine dieser Anschauungen: das Kapitalverhältnis hätte, meinte die Studentenbewegung von 1968, stellvertretend für alle Volksgenossen und Freunde des Echten und Natürlichen "... die Gefühle, die Lust, die Erotik, die Sexualität in eine Ware [verwandelt]" (Pohrt 1981, S. 7). Dabei hat der Tausch sie von der tierischen Naturwüchsigkeit der Sippe erst befreit, so Pohrt, das Begehren und die Lust durch die Wahlchance des Geliebten erst geweckt. Denn erst wenn die Liebe etwas Wert war, konnte man sie schließlich auch verschenken an denjenigen, der einem gefiel, ab hier beginnt „die Poesie und die erhabenen Aufwallungen“, die einem Don Juan „nicht weiter als bis zum Spann“ reichten.

Die Lust im Stande der Sehnsucht und des Verlangens  - oder die Liebe - ist daher von Anbeginn über Romeo und Julia bis hin zur Dirne ein Protest gegen Sippe, Blut, Boden und Familie als Repräsentanten auf 'Bluturenge, Natur und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen gegründeten, nur lokalen Zusammenhangs', von dem Marx spricht." (Ebd., S. 10) [...] Kein Wunder daher, daß das Land der Fremdenfeindlichkeit und der Pogrome auch das Land tolpatschiger Liebhaber und reizloser Frauen ist. (Ebd.)

So darf hier die Frau weder geschminkt noch außergewöhnlich gekleidet sein, sie muss natürlich sein, um ihr die einzigartige Persönlichkeit, die ihr Würde verleiht, zu verleiden, die wahre Liebe erst ermöglicht. Hören wir noch einmal Balzac: "Reich geschmückt waren sie [die Frauen], aber reicher noch waren die blendend schönen Einzelzüge, vor denen alle Wunder dieses Stadtpalais' hinschwanden." (nach Pohrt 1981, S. 14) und nochmal Pohrt:

Im Ornamentalen und Artifiziellen, im Schmuck und im Dekor, in den Formen und Konventionen, die ein säkularisierter Abkömmling jener Anstalten sind, welche die Menschen einst trafen, um an den Festtagen ihren Göttern unter die Augen zu treten, erhält das Geschlecht jene Würde, durch welche es sich von seiner Existenz als leidende, gebärende, säugende Kreatur unterscheidet. Raphael de Valentin [verlangt] es [in seiner Vorliebe für das Dekor, fürs Artifizielle] nicht nach dem ewig Weiblichen, [...] sondern [... er] liebt die zivilisierte, souveräne Frau. (Ebd., S. 12)

Pohrt wendete sich am Abschluss seines Textes "Liebe und Geld bei Balzac" direkt an den Leser:

Wenn Sie nun, verehrte Leser, in Ihrer partnerschaftlichen Beziehung oder [...] Kameradschaftsehe nicht ganz glücklich werden; und wenn Sie in der Heimsauna, unter dem Solarium oder am Nacktbadestrand das Gefühl beschleicht, dies alles reize Sie nicht mehr - dann können Ihnen weder [...] Oswald Kolle oder gar Beate Uhse helfen. Helfen kann Ihnen auch nicht Balzac. Bei ihm aber können Sie wenigstens nachlesen, was Sie verpaßten. (Ebd.)

Balzacs Lebenswelt der Menschlichen Komödie war von einer solchen verödeten Liebeswüste jedenfalls noch weit entfernt, sein Don Juan war eine Übergangsfigur, ein gesellschaftliches Zwitterwesen, das in feudaler Pracht aufwuchs, in dessen versteckten Reservaten - von der banalen Welt getrennt, von allen Sorgen befreit und selbstverständlich auf Kosten des untertänigen Pöbels - die Liebe und die Entwicklung des Individuums sich zu neuen Höhen aufschwangen konnten. Und zugleich war Don Juan ein Individuum des beginnenden Bürgertums, eines Zeitalters, das vielen Menschen neue Möglichkeiten des Aufstiegs bot, es war das Zeitalter der Glücksritter, in dem ein Publikumserfolg zu schnellem Reichtum führen konnte. Ein Don Juan hatte einen solchen zwar aus ökonomischer Perspektive nicht nötig, aber - Ironie einer guten Geschichte - Balzac verwandelte die neue gesellschaftliche Ideologie, vom Tellerwäscher zum Millionär, den Traum vom Aufstieg durch Berechnung und Arbeit zu schaffen, gegen den der Adel immun war, in den alten Traum der Unsterblichkeit, den kaum ein Mensch widerstehen konnte, schon gar nicht ein reicher Lebemann wie Don Juan. Dieser Traum kam in der trivialen Form eines Dings daher, eines Gefäßes, welches allerdings ein okkultes und äußerst wertvolles Lebenselixier beinhaltete. Ob beabsichtig oder nicht, die Analogie des Lebenselixiers zur Ware sticht einem ins Auge, sie hat Gebrauchswert, allerdings ist das nicht ihr Existenzgrund, vielmehr ist es ihr Nachleben als Gelderlös, als vermehrter Tauschwert wieder in die Produktion auf höherer Stufenleiter einzugehen und die Vermehrung des Werts zu bezwecken. Einmal eingerieben auf den leblosen Körper ist auch das Lebenselixier wie die letzte Ölung verbraucht, wie ein Wunder allerdings erwacht der ehemals tote Körper stärker und jünger als je zuvor wieder zum Leben, wie das Kapital durch die lebendige Arbeit auf erhöhter Stufenleiter des Produktionsprozesses. Die Chance auf ein zweites Leben voller Genüsse und Liebesabenteuer war also eine Sache, die Don Juan nicht verstreichen lassen konnte. Um diesen Traum wahr werden zu lassen, musste er sich aber etwas einfallen lassen, er musste berechnend werden, was gleichzeitig bedeutete, geizig zu werden und das Verbrechen bereits implizierte. Es bedeutete ferner mit einer gewissen Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen zu planen, konkreter: sie als Hindernisse aus dem Weg zu räumen oder sie zu instrumentalisieren. So musste er seinen wieder erwachten Vater (zumindest dessen Auge) töten und seiner späteren Familie den gottesfürchtigen und liebevollen Ehemann und Vater vorspielen, um sie als Garanten für sein zweites Leben einzuspannen. Schließlich musste ihn ja jemand nach seinem Tode mit dem Lebenselixier einreiben, am besten jemand, der ihn bedingungslos liebte, seine gottesfürchtige Frau oder der folgsame Sohn bspw., und nicht jemand, der auf die gleiche egoistische Idee, wie er selber zuvor kommen konnte.

Die Zivilisation kam mit der Barbarei. Don Juan wurde zum Kapitalisten als Sklave seiner Lust, einer Lust allerdings, die sich schon nicht mehr auf die Leidenschaften einlassen konnte, sondern zur Lust an der Anhäufung und Ausdehnung von Genüssen regredierte, d.h. der Maximierung eines Quantifizierbaren, und sich somit als Surrogat der Leidenschaften nicht mehr an der Unberechenbarkeit des Augenblickes verlieren konnte. So war Don Juan bereits ein rastloser und berechnender Liebhaber, dessen Liebe durch das Kalkül korrumpiert war, der den Blick auf das Besondere schon zugunsten der abstrakten Quantität verloren hatte, wie der Kapitalist ein rastlos kalkulierender Unternehmer ohne emotionalen Bezug auf seine hergestellte Waren ist, ja sein muss, um flexibel und zielsicher in die jeweils profitabelsten Märkte zu investieren. Wie für Don Juan die reine Anzahl seiner Geliebten die verlorene Liebesunfähigkeit kompensieren musste, also lediglich Instrument war, nicht Zweck seiner Existenz, sind für den Kapitalisten, als Organisator der Warenproduktion, die Waren lediglich Mittel für die Vermehrung ihres Tauschwerts zur Ausweitung der Produktion, zur Vermehrung ihres Warenwerts in Geld. Wie Don Juan sind die Kapitalisten nicht einfach gierig oder genusssüchtig - wer ihnen das vorwirft, moralisiert aus dem durchsichtigen Grund, nicht die Möglichkeit dazu zu haben - sondern die Charaktermasken eines gesellschaftlichen Verhältnisses, welches es mit ihnen natürlich besser meinte als mit den Moralisten. Es war das Geld was die Menschen verwandelte, jenes abstrakte Ding, dessen Qualität ganz Quantität ist, welches man wie ein Wunder in den Händen halten konnte und welches die Welt als Kapital sowohl entzauberte als auch neu verzauberte, und zwar in eine unerbittliche Produktionsmaschine, die nur noch eine Richtung kennt: Vorwärts! Dieses neue Mysterium verwandelte alles ihm Akzidentelle in Instrumente seiner Vermehrung und breitete sich in den Köpfen der Bürger als Zwang der Sachen, als Sachzwang aus, um als Entqualifiziertes jeden Gedanken in eine Berechnung umzuformen und eine ungekannte Kälte in ihren Herzen hinterließ, welches sie bei Balzac, dem heimlichen Bewunderer der Menschen, aber immerhin nie ganz verlieren. Ihre Handlungen blieben bei ihm auch als Verbrechen verständlich, vor dem Hintergrund der Leidenschaften, die die Menschen im Kapitalismus noch kannten. Anders sieht es im Spätkapitalismus aus, die Gnade der frühen Geburt hat es Balzac erspart, solche Menschen wie Rudolf Höß, Lagerkommandant von Auschwitz, zu kennen, eine Bekanntschaft, die sicherlich die Menschliche Komödie unmöglich gemacht hätte. Für die Darstellung der menschlichen Tragödie bzw. der Farce soll hier ein anderer Autor zuständig sein, nämlich Wolfgang Pohrt.

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