Dass die Kritische Theorie zum Hobby von Neurotikern geworden ist, ist die Konsequenz der richtigen Einschätzung der Kraft ihrer Gedanken, Menschen zu erreichen. Kurz gesagt, man wundert sich mit ihr nur noch in verkauzter Weise, warum die Revolution nicht stattgefunden hat, warum die Menschen sich das antun? Man kommt dann irgendwann zu der idiotischen Antwort, die dialektischen Materialismus in Anthropologie verwandelt, dass die Menschen halt so sind. Zwar hat der historische Materialismus zurecht behauptet, dass die gesellschaftlichen Umstände die Menschen zu dem machen, was sie sind. Wenn sich aber die historischen gesellschaftlichen Zustände nicht mehr ändern, schon gar nicht nach Maßgabe menschlicher Vernunft, dann ergibt diese Unterscheidung keinen Sinn mehr. Die Umstände bestimmen ihre Menschen und die Menschen wiederum ihre Umstände. Dialektik muss zwangsläufig den Ewigkeitswissenschaften der Anthropologie, Soziologie oder Ökonomie kurzum den Human- oder Sozialwissenschaften Platz machen. Wissenschaften, die die Menschen und ihre gesellschaftlichen Umstände zurecht besser erklären können als die Metaphysik der Vernunft. Ohnmacht ist ubiquitär.
Um diesen erstaunlichen Sachverhalt des gesellschaftlichen Stillstands, der nicht einmal einen utopischen Überschuss wie im Liberalismus mehr zulässt, zu ergründen, liest man dann dutzende linke Bücher, und schließlich wird man ganz fasziniert von der Analyse des Kapitals und ganz angewidert von den anti-kapitalistischen Tiraden, und man wird vom Kritiker zum heimlichen Bewunderer des Kapitals. Marx erging es nicht viel anders, nachdem er durch seine Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsform eingesehen hatte, dass es schwer sein könnte, da wieder herauszukommen und er anfing zu glauben, es mit dem ewigen Schicksal der Menschheit zu tun zu haben.
Das Kapital macht die Menschheit zwar nicht frei, glücklich und reich, wie es seine Apologeten immer versprochen haben – diese Behauptungen zählen vielmehr zu seinen ideologischen Glanzstücken, verbreitet durch seine privilegierten Charaktermasken -, und es angesichts der immer fortwährenden Entwicklung der Produktion ja fast schon logisch erschien, wenn man von einer genaueren Analyse absah. Aber es sichert den Menschen als Spezies zuverlässig ihr Überleben, und zwar auf dem neuesten Stand der Produktivkraft und der größten Anzahl von Einzelindividuen, die jemals auf dieser Welt lebten.
Und was ist mit dem Kommunismus, der auf das Kapitalverhältnis folgen sollte? Nun ja, der spielt oder spielte eher die Rolle des Reiches, welches nicht von dieser Welt ist, auf dass sich ein jeder anstrenge, um in es aufgenommen zu werden: säkularisierte Heilserwartung im Jenseits. Aber wie die Kirche hat auch diese Sekte viele Jünger verloren, die Menschen glauben einfach an nichts mehr, schon gar nicht daran, dass etwas besser sein könnte als das, was ist. Das alte Märchen, je entwickelter die Produktivkraft, desto näher kommt es, dieses kommunistische Reich der Freiheit, zieht einfach nicht mehr. Work-Life-Balance schon eher, wobei Life Freizeit meint, in der man konsumiert und sich auf die Arbeit vorbereitet. Es müsste also Work-Consume-Balance heißen.
Das Kapital ist nun mal dialektisch und eben keine sozioökonomische Entwicklungsstufe, und zwar so dialektisch, dass es keinen Ausgang mehr findet aus dem ewigen Fortschritt seiner Produktivkraft zu einem neuen Produktionsverhältnis. Es hat sozusagen den Fokus verloren, den es durch bevorstehende Revolution bekommen sollte, es hat sich stattdessen neujustiert oder umorientiert. Ständiger Produktionsfortschritt ist nun das Fundament des gegeben Produktionsverhältnisses, nicht mehr dessen Sprengsatz. Die revolutionäre Aufhebung der Widersprüche auf einer höheren Gesellschaftsstufe ist zur revolutionslosen Aufhebung des Widerspruchs überhaupt geworden. Das Salz in dieser dialektischen Suppe sollten eigentlich die arbeitenden Menschen sein, die mit der durch die gewaltige Produktivkraftentwicklung längst sinnlos gewordenen Plackerei, Ausbeutung und mit Demut getragenen Verschwendung von Lebenszeit Schluss machen sollten. Sie sollten die mit Gewalt festgestellten gesellschaftlichen Verhältnisse freibrechen, um sie vor ihrer Verewigung abzubringen und die fortschreitende Produktionsmaschinerie davor zu bewahren zum bloßen Instrument der Verwertung zu werden.
Allerdings sind die Menschen ebenfalls Produkte des Kapitals, und zu viele Generationen unter dem Kapital verändert Gottes Ebenbild anscheinend soweit, dass das Leid unter unnötig unvernünftigen, zum großen Teil elendigen Bedingungen als natürlich und unabänderbar empfunden wird. Man hat sich einfach daran gewöhnt. Was gefühlt ewig dauert wird einfach zur Natur, und die kann man schließlich nicht infrage stellen. Man kann also den Menschen keinen Vorwurf machen, sie leben schließlich nicht ewig, wie es die Logik oder Vernunft für sich in Anspruch nehmen. Ist etwas natürlich, kann man sich nur anpassen oder daran zerbrechen, und versuchen lieber besser als schlechter zu leben.
Die Formbestimmungen des Kapitals haben sich also ihren Inhalt so geformt, dass diese Unterscheidung keinen Sinn mehr ergibt, der Gebrauchswert ist ganz zum Tauschwert geworden. Und das sieht man dieser Welt an, sie ist unbrauchbar geworden. Der Sinn der Akkumulation ist nicht die Befreiung von Arbeit und Herrschaft, sondern ihre Verewigung, das wird dann einfach Freiheit genannt. Die Freiheit, das Kapital von der Leine zulassen und staatliche Eingriffe, die zumindest das Schlimmste verhindern wollen, zu denunzieren. Mit der Freiheit, individuelles Interesse gegen allgemeines auszuspielen, der Vernunft ein Schnäppchen zu schlagen, ist Aufklärung in Gegenaufklärung umgeschlagen. Die Dialektik der kapitalistischen Gesellschaft ist zum rasenden Stillstand mutiert. Bewegung ohne Richtung, Fortschritt nur im (Un-)Geiste der Produktion. So ein Stillstand ist zugleich ein Rückschritt, weil das Kapital selbst nicht stehen bleibt, es lässt produzieren, nicht reproduzieren, und verändert sich dabei. Es wird als organisiertes und monopolisiertes zur Beute von Rackets, der bandenförmigen Vereinigung von Individuen.
Aber immerhin, eines darf man dabei nicht vergessen: Die stationäre Version des Kapitalismus, also der Spätkapitalismus ist trotzdem ein Fortschritt für die Weltgesellschaft, es sichert besser als alle vorherigen gesellschaftlichen Reproduktionssysteme das Überleben der Menschheit. Die Privilegierten haben zu tun, mit was und wofür ist niemandem ganz klar und spielt auch keine Rolle, die anderen haben auch zu tun, und zwar damit, über die Runden zu kommen. So ist jeder beschäftigt, in seiner nach ererbten oder angedrehten Fähigkeiten und Bedürfnissen strukturierten Form des Überlebens. Das Leben dreht sich wie ein Hamsterrad, das jeden Morgen im neu startenden Berufsalltag Schwung aufnimmt. Der Weltgeist ist zum Hamster geworden, der mit vollgestopften Backen lostritt, aber kein Zentimeter mehr von der Stelle kommt. Freiheit bedeutet dann in der ersten Welt für die Mehrheit ein auskömmliches Leben zu führen, dass dem offenen Vollzug eigentlich nur noch die freie Arbeitsplatzwahl voraushat. Diese Altenheim-ähnliche Wohlstandsblase, in der fast jeder in einer Wohnung leben, ausreichend Nahrung kaufen kann, krankenversichert ist und auch mal Urlaub auf den Kanaren machen kann, diesem wattierten Elend der Ersten Welt also, steht abgeschottet das nackte Elend für den größten Teil der Menschheit gegenüber, das Leben wie auf einer Müllkippe und abhängig von Gottes Gnaden.
Das Kapital mag Menschen aussortieren, die für seinen Verwertungsprozess unnütz sind, aber töten tut es sie deshalb nicht. Wenn sie Glück haben, bekommen sie Lohnersatzleitung, in den meisten Teilen der Welt fallen sie hingegen in den informellen Sektor. Schwarz- und Parallelmärkte entstehen, sie müssen Kriminelle werden, stehlen, betteln, den Wohlstandsmüll der Ersten Welt durchwühlen, sich prostituieren, sich weiter einschränken. Für die Verhungernden gibt es die Welthungerhilfe, die die Überkapazitäten der Nahrungsmittelindustrie durch Spenden ganz unökonomisch an unnütze Esser verteilt, und der Ersten Welt so zugleich zu einem guten Gewissen verhilft. Auch das ist ein Geschäft und sichert teilweise hochbezahlte Jobs. Die Konsequenz aus der Unbrauchbarkeit der Arbeitskraft der Mehrheit der Menschheit für das moderne Kapital, dass also die Anwesenheit von Menschen nicht mehr oder überhaupt selbstverständlich ist, zieht nicht das Kapital selber, sondern die Menschen, zumindest im Faschismus. Der Kapitalismus macht einfach weiter, egal ob Demokratie oder Autokratie, ob Liberalismus oder Keynesianismus, Produktion um die Verwertung anzutreiben, dabei organisierte Cliquen reich zu machen, ihre ärmeren Opponenten mit Jobs und inszenierten Märkten bei der Stange halten, sowie mit Konkurrenz- und Wettbewerbsjargon aufzureiben.
Die allgegenwärtige profane Zeit hat nichts mehr von der heiligen übriggelassen. So fügt sich das Absterben der Religion wie durch göttliche Vernunft der Allgegenwärtigkeit des hoffnungslosen Alltags der immerwährenden Reproduktion der gleichen gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart. Ein Rückschritt ist aber auch das beileibe nicht, denn ein jeder ist so beschäftigt und kommt nicht auf dumme Gedanken. Religiöse Fanatiker und Attentäter kommen eher selten aus den Wohlstandsländern dieser Welt und haben meist kein geregeltes Alltagsleben.
Nach der Apokalypse mag vor der Apokalypse sein, das Kapital kann nur mit der Schulter zucken: das Erste, was nach der Apokalypse entsteht ist die ursprüngliche Akkumulation durch Gewalt und der Schwarzmarkt, ab da geht alles wieder von vorne los, nur größer und gewaltiger als je zuvor. Ob der nächste Krieg mit Robotern geführt wird oder die Zeitungen und Handys von künstlicher Intelligenz gefüllt werden, macht alles keinen Unterschied, alles bleibt, wie es war, nur moderner.
Das Kapital wirkt wunder für die Spezies Mensch! Nicht nur survival of the fittest, wie in der Natur, sondern nahezu survival of everyone. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Das Kapital hat eine zynische Version einer höheren Gesellschaftsstufe erschaffen, die funktioniert. Droht bspw. die Zerstörung der Lebensgrundlagen, hat es die Lösungen schon parat. Seine Jugend geht auf die Straße und fordert nämlich umweltneutrales Produzieren. Voila! Die ganze existierende Autoflotte landet auf den Müll und muss auf einen Schlag komplett ersetzt werden, Batterie getriebene Autos für die alten Verbrenner, und das ganze vom Staat, also von den Steuerzahlern subventioniert. Ein enormer Schub für das Kapital und seiner windigen Marionetten. Jeder Zusammenbruch ist zugleich eine Auferstehung. Das war bis jetzt bei jeder gesellschaftlich inaugurierten Katastrophe der Fall, jeder Weltkrieg ein Konjunkturprogramm, jede Krise eine Chance. Was für die Menschen eine Katastrophe ist, ist für das Kapital eine Frischzellenkur. Für jene mag es die Katastrophe als Daseinsform sein (R. Luxemburg), für das Kapital aber ist es Teil seiner DNA; Konjunktur, Rezession, Pleiten, Zusammenbrüche oder märchenhafte Gewinne, diese Unterscheidungen spielen für das Kapital keine Rolle, weil es immer Sieger bleibt und zugleich das Überleben der Menschheit sichert: die Kettenglieder [dieses] Bündnisses werden unablässig vom Hammer der Notwendigkeit enger geschmiedet. (Balzac)
Der Überlebenskampf der menschlichen Spezies, das survival of the fittest in der ersten, der biologischen Natur, die immer auch Lücken und Muße zuließ, wurde vom Kapitalismus als die perfekte Umwelt für die Menschen abgelöst. Aus dieser zweiten Natur gibt es kein Entrinnen mehr, weil die Steigerung der Produktivität kein Innehalten mehr kennt. Versprach sie einst das Entrinnen aus dem Naturverhältnis, dass die Menschen gar von einer neuen Welt träumen ließ, ist sie heute zum ewigen Verhältnis geworden, zum naturalisierten gesellschaftlichen Verhältnis. Diese Produktionsform ist selbst zum ewigen Paradigma, zum eisernen Käfig für die Menschen geworden, zur zweiten und unheimlich perfekten gesellschaftlichen Natur. Sie ist so perfekt, weil diese besondere Spezies, der Mensch, gerade durch diese zweite Natur zum Menschen geworden ist. Zusammen sind sie ein unschlagbares Duo für die Ewigkeit, diese perfekte gesellschaftliche Umwelt sichert den Überlebenskampf der Spezies, und darauf kommt es ja schließlich an. Auf das Überleben. Das Aussterben des Menschengeschlechts und die Aufhebung des Kapitals sind durch diese untrennbare Symbiose ausgeschlossen. Ganz im Gegenteil zur Auffassung mancher Linker, dass das Kapital tötet. Umgekehrt! Es weitet nicht nur die Produktion aus und vermehrt den Warenausstoß permanent, sondern auch das Leben. Paradoxerweise geht die Geburtenrate nur in den angestellten oder verbeamteten Mittel- und Oberschichten der Wohlstandsländer zurück. Ein Phänomen, welches an die Folgen der Deprivation von Zootieren erinnert, denen der Überlebenskampf als Kick für das Nervensystem einfach fehlt, um sich lebendig zu fühlen. Das Surrogat, der tägliche Bandenterror und der Überlebenskampf in Serienform auf Netflix und Co., mag dabei nur wenig helfen.
Der Anthropologe Levy-Strauss hatte schon recht, es macht keinen Unterschied, ob die Menschen an den universellen Fortschritt glauben oder nicht, ob sie ein richtiges Leben anstreben oder nicht, man kommt auch ohne diese Ideen klar. Soviel können wir von den Primitiven lernen.
Vielleicht stimmte es alles: das Kapital macht depressiv, krank, einsam, borniert und dumm; aber für unser Überleben ist es einfach das Beste. Es funktioniert so gut, weil es so verdammt einfach ist, nicht im Gesamtprozess, aber für denjenigen, also für alle, die mit ihm klarkommen müssen. „Tu irgendwas, was Geld bringt.“ Das ist es eigentlich schon.
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