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Am 21.12.2018 ist Wolfgang Pohrt gestorben. Ein Autor, der in den letzten Jahren fast vergessen war, was die wenigen oder lieblosen Nachrufe in den überregionalen Zeitungen leider hinreichend bewiesen. Es ist, als sei mit seinem Tode auch der letzte Gedanke aus der Öffentlichkeit verschwunden, dass es anders sein könnte. Denn selbst der Gedanke, der nur konstatieren kann, dass keine Revolution stattfinden wird, dass die Verhältnisse bleiben, wie sie sind – vorgeschichtlich -, dass der Bann der Gesellschaft nicht gebrochen werden kann, entsprang bei Pohrt immer der verblassten Hoffnung an ein Leben, das gelebt werden könnte und sich an Adornos Diktum, “sich von der eigenen Ohnmacht, nicht [auch noch] dumm machen zu lassen” klammert. Statt Revolutionär musste er ein homme de lettre werden, wie Marx und Co. vor ihm.

Gedächtnis und Realität als Störgrößen des Betriebes

“Das Leben funktioniert nicht ohne großes Vergessen.” zitierte Pohrt Balzac. Der antrainierte Gedächtnisverlust der Gesellschaft ist Voraussetzung dafür, es in ihr auszuhalten und zu überdauern, denn ohne Vergessen und mit einem Bewusstsein des Vergangenen wie des Gegenwärtigen, seinem Produkt, wäre es nicht auszuhalten. Lebenswert wäre ein Leben deswegen erst, wenn das Vergangene nicht verdrängt, sondern erklärt und seine unheimliche Kraft auch gebrochen werden könnte, so die implizite Behauptung des Zitats. Pohrt maßte sich nicht an, mit seinen Schriften jene Aufklärung zu leisten, er sah dies bereits bei Marx und der kritischen Theorie auf der Höhe ihrer Zeit vollbracht. Wolfgang Pohrt schrieb über die heutige Realität, denn: “Maßgebend für diese Fähigkeit [politisches Bewusstsein] des Subjekts ist sein Realitätsbezug. Der ist gestört, wenn man Tatsachen ignorieren muss, um wenigstens den Anschein von Normalität zu retten. Gegen den drohenden Zerfall wehrt das Denken sich durch Ausgrenzung solcher Fakten, die mit ihm nicht kompatibel sind. Es erstarrt und schrumpft im Maße, wie es die Wirklichkeit verleugnet.” (Pohrt 1993, S. 55) In seinen Schriften waren die Versuche einer kritischen Theorie den veränderten Zeitumständen des Spätkapitalismus eine Form zu geben und die Phänomene und ideologischen Auswüchse der Zeit auf den Begriff zu bringen, die wichtigsten theoretischen Momente seiner Texte. Aber das sagt vielleicht alles nicht viel, denn man muss sie gelesen haben, weil sie eben auch fantastisch unterhalten, ohne Unterhaltung zu sein, weil sie ebenso lakonisch, unberechenbar, witzig und unvergleichlich spitzzüngig sind und den Leser staunen ließen (auch die jüngeren, die die meisten seiner Bücher erst Jahre oder Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen lasen). So etwas war man nicht gewohnt. Gewohnt war man vermoderte akademische Verblödung und sterbenslangweilige Texte von solchen Karrieremumien wie Sloterdijk oder Habermas. Wolfgang Pohrt war nicht nur der beste Theoretiker seiner Zeit, er konnte schreiben wie kein anderer.

Deswegen soll in diesem Nachruf nicht von seine unfreiwilligen Rolle als Advocatus Diaboli der Linken oder als Hausheiliger der Antideutschen die Rede sein, sondern es soll sich anhand kommentierter Zitate erinnert werden, dass es einst möglich war, eine Dissertation zu schreiben, die man mit einem erstaunlichen Erkenntnisgewinn ohne je zu langweilen viermal lesen konnte, kurzum der Geist ein letztes Mal durch die Flure akademischer Anstalten wehte, aber nur um die Tür von draußen zu zuschlagen und sich zu verdünnisieren, weil er nicht mehr gebraucht wurde und die Universitäten wie vor 1968 wieder zu Betrieben wurden.

Von der Lust Wolfgang Pohrt zu lesen

Wenn man sich durch viele triste und schlecht geschriebene linke Bücher gewühlt hat und dann, durch welchen Zufall auch immer, einen Text von Wolfgang Pohrt zu lesen bekommt, ist es wie ein Erweckungserlebnis. Es ist, trotz des unappetitlichen Inhalts, ein Vergnügen sie zu lesen, ja der perfektionierte Sarkasmus macht Spaß, um diesen von der Reklame ausgelutschten Begriff zu verwenden. So ein Verve, so viele Volten, so eine Leichtigkeit, die Sachen auf den Begriff zu bringen, lächerlich zu machen, zu unterhalten ohne Unterhaltung zu sein, das war man in diesem Milieu überhaupt nicht gewohnt. Es gab jemanden, der schreiben konnte wie kein Anderer und diese Anderen an Wissen über die Kritik der Politischen Ökonomie auch noch bei weitem überragte und noch nicht mal darauf herumritt (oder nur selten). Ein absoluter Glücksfall für eine wahrscheinlich viel zu geringe Leserschaft. Im 18. oder 19. Jahrhundert hätte man von einem Genie gesprochen. Bei Pohrt werden einem keine schlecht verarbeitete Kritiken Marx’ oder der kritischen Theorie zum tausendsten Mal als akademischer Aufguss dritter Klasse aufgetischt, sondern die Absurditäten des Alltags und seiner Fressen amüsant beschrieben und meisterhaft erklärt.

Irgendwo wurde Pohrt zum Meister der Volten nobilitiert, als wenn er diese Volten als Stilblüte perfektionierte. Dabei ist es die Geschichte selber, die die wildesten Volten hervorbringt. Wer hätte denn gedacht, dass die Oktoberrevolution, die das erste Land der Welt hervorbrachte, dass eine Idee, nicht ein Territorium oder das von ihm bewohnte Volk im Namen trägt, den ersten reinen Mafiastaat hervorbringen oder dass das maoistische China – von Millionen von Jugendlichen in den 60er und 70ern beschwärmt – eine brutalisierte Turboversion des Stalinismus zum Vorreiter des Spätkapitalismus würde, welcher Orwellsche Dystopie und nachholenden Imperialismus vereinigt. Oder dass der Westen, Ausbeuter der Peripherie, zum letzten bröckelnden Hort der Bürgerrechte würde. Pohrt stülpte nie vergangene Theorie über neue Phänomene, die Theorie wurde selbst zur Verfallsform gemäß ihres Gegenstandes, sie musste sich ständig an die neuen Phänomene des Spätkapitalismus adaptieren, um sie einigermaßen erklären zu können, und so gelang es Pohrt, die in alten Denkmustern sinnierenden Zeitgenossen stets aufs Neue durch seine Ideologiekritik zu überraschen.

Die Welt ist durch und durch eine des Kapitals geworden,…

Indem die Menschen abwechselnd blinde Naturkraft [als Arbeitnehmer] und kreatürliche Bedürftigkeit [als Konsument] sind, sind beide gegen geschichtliche Entwicklung hermetisch abgedichtet und fallen, ununterscheidbar geworden, in geschichtslose Natur zurück, wo sie, nur mehr regeltechnisch begreifbar, teils mit verblüffender Dynamik fortwesen. So wie sich die Verwandlung ganzer Wälder in Bild-Zeitungen, kompletter Eisenerzvorkommen in Autos an Sinnlosigkeit kaum von einem Erdbeben unterscheidet, so unterscheidet sich auch das Alltagsleben restlos Objekt gewordener Menschen kaum vom durchorganisierten der Insekten, mit welchem die Sterbeziffer und Todesursachen zu teilen jene sich bereits anschicken. (76, 77 f.)

Das war unverwechselbar der Ton der “Theorie des Gebrauchswert”, einer Theorie, die den Gebrauchswert nicht nur als Kategorie der Politischen Ökonomie bestimmte, die jenen trivialen, weil in vorkapitalistischen Zeiten selbstverständlichen, Sachverhalt erst zu Sprache brachte, als die Arbeitsprodukte primär Träger von Mehrwert wurden. Sondern Pohrt bestimmte, wie der revolutionär gesinnte Marx, den Gebrauchswert des Kapitalverhältnisses selber am Versprechen seiner Aufhebung, gegen seine Verdinglichung in der Theorie, gegen seine heterogene Instrumentalisierung durch das Kapitals und gegen seine Indifferenz gegenüber Produktion und Konsumption. Würde dieses Versprechen eingelöst, ende die Dialektik von Produktion und Produktionsverhältnissen im Verein freier Menschen und wären, nach Marx, auch ihre Opfer nicht sinnlos – für Pohrt schon. Nicht nur, weil er im Gegensatz zu Marx erfahren durfte, dass diese Hoffnung endgültig vergeblich war, dass keine Revolution stattfand, sondern weil Marx elaborierter Gang der Geschichte Richtung Assoziation freier Menschen ein Hirngespinst gewesen sei, und Marx selber das auch wusste, weswegen er Wissenschaftler und kein Revolutionär wurde. Aber Revolution musste gemacht werden, das wusste Marx wiederum auch, aber er nahm an, dass dies ab einer bestimmten Reife der Produktivkräfte unvermeidlich sei. Das war es aber nicht. Pohrt beschrieb dementsprechend das Hamsterrad aus der Verewigung von Lohnarbeit und Konsum, und einem Produkt, das als Selbstzweck jenseits jeglicher emanzipativer Möglichkeit nur noch eines sein konnte – Schund. Ein Produkt, dem jegliche emanzipative Entwicklung durch Entwicklung der Produktivkräfte abhanden gekommen sei, um die Lohnarbeit aufzuheben und das Leben in die Freiheit zu entlassen, sei am Ende nur noch notwendiger Ausstoß.

Das Versäumen der proletarischen Revolution gestattete der kapitalistischen Entwicklung, ihre zentrale Aporie: Produktion des Reichtums als Zerstörung des Gebrauchswerts, ganz auszubilden und dadurch zu sprengen. Übrig bleibt am Ende die widerspruchsfreie Produktion von einfachem Schund. (76, 16)

…und damit unbrauchbar als Basis…

Mit dem Ende der Dialektik strebe das gesellschaftliche Verhältnis auf einen anderen statischen Zustand hin, über dessen Ziel man nicht viel sagen könne, weil er keinem menschlichen Willen oder Gedanken entspricht, konstatieren könne man nur den neuesten Stand der Unmenschlichkeit und die Lächerlichkeit solcher “menschlichen Verhältnisse”. Das und die Meinung der Menschen darüber waren von nun an Pohrts Gegenstand der Kritik. Das Auslaufen des dialektischen gesellschaftlichen Verhältnisses degeneriere dabei alle ihre Momente, insbesondere seine Individuen:

Nur als von den Sozialcharakteren, die es produziert, auch Verschiedenes ist das Kapital gesellschaftliches, durch Sachen vermitteltes Verhältnis von Personen. Hat es aber diese seine Existenzberechtigung aufgezehrt, sind die Subjekte mit ihm identisch geworden, und kommt es, wie heute, auch ohne Kapitalisten aus, so ist es auch kein Verhältnis mehr. Der Schein ist wirklich geworden, das Kapital Sache. In keinem Verhältnis von Personen zueinander existiert es mehr, sondern in Verfahrensvorschriften, objektiven Produktionsabläufen und materialisiert in Konzernpalästen, Autobahnen, Fernsehern, Doseneintopf – Schund. (76, 79)

Die objektive Vernunft, die im Wert des Kapitalverhältnisses auch zum Ausdruck kam, nämlich die Steigerung des Produktionsniveaus nach Maßgabe menschlicher Bedürfnisse (und Zahlungsfähigkeit), solange ihre Aufhebung zum Verein freier Menschen noch ein Option war, ist mit Preisgabe dieser Option ebenfalls vom Tisch. Wer die Dialektik des Kapitalverhältnisses verkennt, könnte dies Pohrt als Apologie der kapitalistischen Gesellschaft auslegen, was viele Linke auch taten. Aber Pohrt wusste, dass:

Solange kein Verein freier Produzenten über die Produktion entscheidet, hat dies der Wert immer noch besser besorgt als die modernen Cliquen, welche die Welt verwüsten – und seien sie noch so sozial gesonnen. (76, 145) […] [Denn] das Kapital kommt […] tendenziell ohne Subjekt, ohne menschlichen Willen, Bewusstsein und Vorstellungen aus – die “Entideologisierung”, die sich freilich mit dem Aufkommen perfekter Wahnsystem bestens verträgt, ist keine Erfindung der Reaktionäre. [Typisch bürgerlich ist, dass sie nicht die falsche sondern gar keine Vorstellungen haben.] (76, 157)

…für eine Revolutionierung zur Assoziation freier Individuen.

Der Zerfall von Gesellschaft überhaupt und ihrer Individuen, das Konstatieren dieser Phänomene im Lichte der verpassten Emanzipation von der Vorgeschichte, die gerade durch das Kapitalverhältnis einmal möglich schien, waren Pohrts Themen ebenso wie die Möglichkeit der Instrumentalisierung des Werts durch Rackets und Cliquen. 43 Jahre nach der Theorie des Gebrauchswert sind die Phänomene dieses Verfalls, und damit das Zutreffen der These seiner Schrift, noch viel schlagender sichtbarer als zu jener Zeit, da sie nicht nur das fast schon unbewusst vorausgesetzte gesellschaftliche Verhältnis betreffen, sondern auch den politischen Überbau angreifen, den offensiv propagierten Legitimationsnarrativ der heiligen Demokratie und das Paradox der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Wenn im Kapitalverhältnis die Möglichkeit des gesellschaftlichen Eros geboren wurde, so wurde mit dessen Nichtrealisierung der gesellschaftliche Thanatos geboren. Faschismus und Auschwitz waren für Pohrt weder Zivilisationsbruch noch logische Konsequenz des Kapitalverhältnis, sondern mussten entstehen, als aus dem Sozialismus nichts wurde (81, 121). Mit fortschreitender Steigerung des Produktionsniveaus ohne Revolutionierung des Produktionsverhältnisses wurde der Mensch als Ausbeutungsobjekt nutzlos und überflüssig für die Gesellschaft. “Der Faschismus zog aus dieser ökonomischen Entwicklung nur die politische Konsequenz.” (76, 175) Weder die Lebendigkeit des Sklavens noch die auszubeutende Arbeitskraft interessieren ihn, der Faschist betrachtet seinen Gegner nicht mehr unter dem Aspekt des Nutzens, sondern des Todes, “er kann nur vernichten.” (76, 176) Der Todestrieb wird allgegenwärtig:

Wie in vorgeschichtlichen Zeiten parieren die modernen Menschen die übermächtige Gefahr durch Mimesis. Anders allerdings als in vorgeschichtlichen Zeiten grollen sie nicht selbst wie der Donner, sondern weil sie nicht den Donner sondern den Tod fürchten, sagen sie schon zu Lebzeiten gar nichts mehr. Sie stellen sich tot, weil sie als Lebendige nur die Vernichtung zu erwarten hätten. Daher die Sterilität, die leichenhafte Starre des Lebens in den Metropolen. Der Verzicht auf jegliche spontane Lebendigkeit, die ungeheuerliche Demut, mit der man das stumpfsinnige Dahinvegetieren lustlos erträgt, kann nur als antizipierender Gehorsam vor der allgegenwärtigen Übermacht des Todes verstanden werden. (76, 177)

Da aber das Leben immer weiterrollt, ohne Erinnerung und ohne Vernunft, mündet das Kapitalverhältnis ohne Sinn in die Herrschaft von Cliquen und Rackets, in die Hinterlist der Vernunft in Wertform:

Der Umschlag der Versachlichung von Geschichte in die Willkürherrschaft der Syndikate ist als nachdrücklicher Hinweis darauf zu verstehen, dass Geschichte stets ein Subjekt mit Willen und Bewusstsein voraussetzt: aus der invisible hand wurde am Ende der Führer, und aus der Abstraktheit des allgemeinen Reichtums wurden ganz erschreckend konkrete Autobahnen. (76, 189 f.)

Die Verewigung des Kapitalismus geht nur mit seiner fortwährenden Wandlung einher, seine Dialektik wird zum objektiven Verfahren, seine Nutznießer dringen von der organisierten Kriminalität der Peripherie in seine Zentren vor, wo Cliquenwirtschaft, Mafiastaat und die Naturgesetzte des Kapitals ununterscheidbar bald sich amalgamieren.

Indem das Kapitalverhältnis sich selbst als reelles Gemeinwesen konstituiert, verliert es seine spezifische, qualitative historische Bestimmung. Sein Zweck ist nicht mehr das Niederreißen aller Schranken der Produktion, sondern das nackte Überleben als einmal etabliertes System. Funktionalismus und Systemtheorie sprechen diese historische Entwicklung mit aller gebotenen Schärfe aus, wenn sie die Gesellschaft als Naturkategorie – als nach Gleichgewicht strebendes System (dessen Schema man von der klassischen Mechanik plagiiert hat) – setzen und die Menschen als Rollenträger, welche von dem modernen Naturverband, dem sie angehören, total determiniert sind. (76, 191)

Soziologie – Im Namen der Wissenschaft gegen Aufklärung und Wahrheit

In der soziologischen Theorie spiegelt sich für Pohrt der Niedergang von Gesellschaft wieder, Gesellschaftstheorie wird zu soziologischer Theorie, die Gesellschaft nur noch als banales Regelsystem beschreibt, mit dem sich der Wissenschaftler zum Zampano aufspielen kann. Den Unterschied zur Gesellschaftstheorie bestimmt Pohrt deshalb folgerichtig:

Der Universalitätsanspruch der Vernunft zielt auf die klassenlose Gesellschaft, auf den Verein freier Menschen. So ist es kein Zufall und keine nur moralische Frage, wenn nachdenkliche Menschen aus der Theorie den kategorischen Imperativ ableiten, “alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”. (Marx) Anders verhält es sich mit der Soziologie als Fachdisziplin. Was der Gesellschaftstheorie als Stigma ihrer Herkunft aus Gewaltverhältnissen, als zu beseitigender Mangel gilt, als niemals hinzunehmende Befleckung ihrer Wahrheit – daß sie sich nicht allen mitteilen kann – macht die Soziologie gerade zum Erfolgssymbol. Sie bezieht aus dem wissenschaftlichen Brimborium, welches sie um ihre Trivialitäten auftürmt, ihre wissenschaftliche Reputation. Gesellschaftstheorie neigt zu Gewalttaten, weil sie sich mit Gewaltverhältnissen nicht abfinden kann. Soziologie hingegen ist friedlich, insofern sie Gewaltverhältnisse verewigt, unter denen sich die partikulare Vernunft nur durch Gewalt und Propaganda Geltung verschaffen kann. (81, 115)

Pohrt zog als Soziologiestudent daraus die Konsequenz, er wollte hinschmeißen, wie er selbst berichtete. Die Frage, die so viele junge Leute in den 60er und 70er zu diesem Fach trieb, nämlich zu erfahren, was die Ursache für das „wattierte Elend“ in den Zentren des Kapitalismus und das nackte Elend in der Peripherie sei, konnte die Soziologie jedenfalls nicht beantworten, sie war eine autoritäre bürgerliche Disziplin geblieben, die ihre Ursprünge nicht ohne Grund in der Gegenaufklärung hat. Nur der historische Zufall, dass die Soziologie die Kritische Theorie in ihren Kanon aufnahm, ließ Pohrt zu Ende studieren, die Lektüre von der Dialektik der Aufklärung stimmte ihn um. Nach seiner Dissertation bei Helmut Reichelt arbeitete er als Dozent in Lüneburg. Zu der Zeit scharrten sich auch einige „kritische Theoretiker“ um den Lehrstuhl von Hermann Schweppenhäuser an dieser Provinzuni. Obwohl Pohrt, nach seinem Verleger Bittermann, wohl Aussicht auf einen Lehrstuhl hatte, machte er nach einigen Jahren nun endgültig Schluss mit der Soziologie und wurde Autor und später ein Einmannforschungsbetrieb, eine Art Ich-AG der Ideologiekritik.

Auf dem Hamburger Adorno-Symposion von 1984, einer Art Gegenveranstaltung von Akademiker der alten kritischen Theorie zur Frankfurter Adorno-Konferenz von 1983, der “unkritischen” Schule um Habermas, Schnädelbach und Konsorten, hielt Pohrt einen grandiosen Vortrag über die Verdammung  der Anwesenden einerseits zu gesellschaftlicher Irrelevanz und andererseits zur Arbeitslosigkeit, angesichts der versteinerten Verhältnisse und der erschöpfenden Beschreibung und Theoretisierung durch Adorno und Horkheimer. Der mit “Der Staatsfeind auf dem Lehrstuhl” überschriebene Vortrag kam bei den Anwesenden sicherlich nicht gut, hofften sie doch gerade darauf: auf gesellschaftliche Relevanz und nach dem Vorbild von Adorno und Horkheimer eine akademische Karriere hinzulegen. Zum Abschluss deswegen ein Zitat, warum die kritische Theorie nicht als akademisches Feld taugt, was man bis in alle Ewigkeiten beackern kann und welches obendrein noch Lehrstühle und Pensionsansprüche verspreche:

Der Begriff “Kritische Theorie” ist nur sinnvoll, wenn er in einem näher bestimmten Gegensatz gefasst ist, wie in Horkheimers Essay “Kritische und traditionelle Theorie”, außerhalb dieses Gegensatzes aber ist er ein Pleonasmus. Noch irreführender ist es, von einer Frankfurter Schule zu sprechen, denn die genannten Autoren haben im Unterschied etwa zu Max Weber oder zu Durkheim nie eine Schule begründet, ganz einfach deshalb nicht, weil sich ihre Texte zur Verschulung nicht eignen. Sie sind nicht doktrinär, dogmatisch, schematisch und simpel genug, sie lassen sich auf keine Lehrsätze, Merksätze, Axiome oder methodologischen Regeln reduzieren, es gibt keine Ansätze, die ausgearbeitet werden können, keine leeren Begriffe, die man wie leere Säcke inhaltlich füllen muss, kein kategoriales Gerippe, welches sich beliebig einkleiden lässt, und damit entfallen alle die Hilfsdienste, durch deren Ableistung einer zum Schüler wird. Man kann Adorno nicht als Schüler dienen, wie man das bei Max Weber kann, indem man sich einen Idealtypus vornimmt und sich dann ein Leben lang von ihm ernährt, indem man dessen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit oder dessen Abweichung von ihr in Schule, Krankenhaus, Altersheim, Produktionsbetrieb usw. mißt. Desgleichen sperren sich die Texte der genannten Autoren dagegen, daß man ihre geistesgeschichtliche Herkunft erforscht, nicht deshalb, weil dergleichen nicht vorhanden oder weil es unauffindbar wäre, sondern weil es zum Verständnis der Texte nichts Wesentliches beiträgt, denn nur beim mißlungenen Produkt interessiert man sich für Machart und Ursprung.
Insofern aber, als es ein vernünftiges Ding mit dem Namen Frankfurter Schule gar nicht geben kann, darf man einen philosophischen Sachbearbeiter Schnädelbach oder eine unter dem Namen Habermas publizierende vollautomatische Textverarbeitungsanlage durchaus als Frankfurter Musterschüler bezeichnen. Insofern auch ist es ganz falsch, hier dem Frankfurter Adorno-Kongreß vom letzten Jahr eine verbesserte Version entgegenzusetzen zu wollen, denn wenn es Zweck solcher Veranstaltungen ist, den Ruhm des Toten, dem sie gewidmet sind, im hellsten Glanz erstrahlen zu lassen, dann war jener Kongreß einfach unübertrefflich in der Art, wie er tätig aufopfernde Selbstverleugnung praktizierte, wie er das Funkeln ausschließlich Adorno überließ und dessen Leuchtkraft noch erhöhte durch den Kontrast zur Blässe, derer die pedantisch über ihn nachdachten. (84, 60; Löbig, Schweppenhäuser 1984, 49 f.)

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