"Ohne eine geistige Erneuerung könnte für die “letzten Menschen des Kapitalismus”, so Max Weber, wahr werden, dass sie zu “Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz [werden]: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.”[1] Warum man in Webers Schriften ein prophetisches Werturteil im Konjunktiv findet, wo er diese doch vehement ablehnte, darüber kann man nur spekulieren. Macht man das, so ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass er eine solche geistige Erneuerung sehr befürwortet hätte, war seine Prophetie doch bereits Wirklichkeit geworden. Aber eine solche Erneuerung war auch im Ansatz nicht auszumachen, vielmehr war die Barbarisierung des Geistes als Surrogat derselben zu konstatieren, die sich im heilserwartenden Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und Bellizismus bahnbrach.[2] Denn eine Erneuerung des Geistes zu erwarten, musste enttäuscht werden, ohne dass der Geist sich auch verwirklichte, dass er die Massen ergreife und das herrschende Produktionsverhältnis umwerfe, aus dessen jeweiliger Ideologie er nämlich selber stammte und das somit zugleich seine Grenzen markierte. Als deutscher Soziologieprofessor war Weber aber doppelt gegen den Materialismus geimpft, deshalb waren ihm solche revolutionäre Attitüden natürlich fremd. Ebenso der deutschen Arbeiterklasse, die sich lieber im Schützengraben zur Volkgemeinschaft zusammenschweißen ließ. Das so etwas passieren könnte, konnte der Geist (der Revolution) natürlich nicht vorhersehen, er war somit untauglich und wurde zurecht gleich zusammen mit den Leichenbergen begraben. Wie im liberalen Kapitalismus die Aufhebung der modernen Barbarei des Klassenverhältnisses, angetrieben durch seinen einzig vorstellbaren historischen Sinn für die geknechteten Menschen – der Entwicklung der Produktivkraft -, möglich schien, ist diese Möglichkeit im Spätkapitalismus der Konsumtion von Reklame und der sinnlosen Schrottproduktion der autoritären Monopole und Staaten, die die Welt verwüsten und die Menschen bevormunden und überflüssig machen, komplett aus dem Sinn geraten. Jener Geist der Negation, der als Gespenst einst Europa unsicher machte, hat sich in Luft aufgelöst und kann nur noch erinnert werden. Grund genug für ein Epitaph.
1 Zur Erinnerung: Was ist Geist?
Geist ist das, was sich über den ewigen Kreis des Entstehens und Vergehens, des Geborenwerden und Sterbens und des unglücklichen und ermüdenden, des sterbenslangweiligen und geistlosen Mittendrins des konkurrierenden Existenzkampfes der tierischen Welt erhebt. Geist befreit vom Naturzwang. Geist ist, wie Hegels es ausdrückte, im menschlichen Universum Weltgeist. Denn der Geist ist menschlich, weil er das Denken voraussetzt, was wiederum nicht heißt, dass Denken und Geist identisch sind. Zwar ist Denken eine geistige Tätigkeit, aber nur in der Philosophie ist sie allein Gegenstand der Reflexion. Denn Geist ist ebenso Wille, Bedürfnis, Begierde, Phantasie, Sinnlichkeit, Anschauung, Leidenschaft, Projektion etc. Diese Momente sind sozusagen der Treibstoff des Denkens. Das Denken hält jene wiederum im Zaum, dadurch, dass es versucht sie antizipierend zu realisieren. Im Begriff des Geistes kommen die Begriffe des Triebes und der Vernunft zusammen. Zusammengenommen hat der Mensch Geist und die Menschheit besitzt Geist. Geist ist also sowohl individuell als auch kollektiv, vermittelt durch Medien wie die Sprache, Schrift etc. und gespeichert durch Gedächtnis, Schriftstücke, Festplatten usw. und oszilliert zwischen Entäußerung und Aneignung. Er ist dabei nicht einfach nur Wissen, weil er niemals nur Instrument oder Befriedigung der Neugier ist. In ihm pulsiert vielmehr die Leidenschaft für das Leben, er ist Triebbegriff, Theorie und Praxis, Mittel und Zweck in einem und versucht ständig über sich hinaus zu gelangen: “Offenbar gerät es dem Geist nur dann recht, wenn er sich nicht selber als seine eigene Erfüllung setzt, sondern bereit ist, an ein außer ihm Seiendes sich zu verlieren: für allen Geist gilt: ‘Wirf weg, damit du gewinnst!'” (Adorno)
Geist ist deshalb aber keine anthropologische Konstante, sondern historische Entwicklung und Entwicklungsresultat. Damit ist gemeint: Des Menschen Wille zur Freiheit, Spontanität, Wahrheit, zum erfüllten Leben, zur Befriedigung und Erweiterung der Bedürfnisse, d.h. im wahren Sinne Reichtum, zur vernünftigen Moral und zur Schönheit wird durch sein an Erfahrung gesättigtes Wissen, sein Erfindungsreichtum, seine Intelligenz über Generationen erst zu einem Geist kumuliert, der sich dadurch in den Gegensatz zum ewigen Kreislauf der Natur setzt. Dafür muss der Geist aber selber wiederum die Natur in Anspruch nehmen, mit der er, dank seines inhärenten Triebes stets verbunden ist. Seine Differenz zur Natur speist sich aus seiner Gemeinsamkeit mit ihr. Denn Unterschieden kann nur da werden, wo das Unterschiedene sich aufeinander beziehen kann, ansonsten fällt es beziehungslos auseinander und zugleich ineinander. Diese Unterscheidung ist die Garantie der Wirklichkeit des Geistes wie der der Natur für die denkende Vernunft. Der Geist verwirklicht sich durch die Umformung der Natur, dessen Resultat gewollt und geistig antizipiert wird. Das Individuum, das dies tut, ist selbst ein Stück Natur. Umformung der Natur als geistige Antizipation, wie sie den historisch-spezifischen Bedürfnissen und ihrem Stand der Antizipation entspricht, und ihre Umsetzung in Handlungen ist Arbeit. Arbeit geschieht dabei immer, sowohl im Entwicklungsgang des Fortschritts der Produktivkräfte und des kumulierten Geistes, gesellschaftlich. Dialektik entzündet sich so am Verhältnis von Natur und Gesellschaft.
Menschlicher Geist ist enthalten im ersten Wissen über Werkzeuge und die Fähigkeit sie einzusetzen, ebenso wie im ersten erhabenen Gedanken, der Kraft seines Willens zur Wirklichkeit Realität wird: dem Gedanken der Religion. Die Erschaffung Gottes ist eine Schöpfung des menschlichen Geistes, ebenso die Theologie und die Kritik an der Religion, die an der Erfahrung der Welt ihren Irrtum berichtigt, ohne den tiefenpsychologischen Wunsch der Religion nach einer Vernunftmoral ad acta zu legen. Praktischer Verstand und der Wille ihn in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit und menschlichen Verkehrs nach eigenen, allgemein zuzustimmenden Gesetzen zu nutzen, kulminieren in dem Begriff der Vernunft. All die genannten Begriffe: Verstand, Vernunft, Freiheit, Spontanität, Wille, Moral, Intelligenz etc. sind insofern identisch, als sie Momente desselben sind: des menschlichen Geistes, der in seiner Entwicklung zu sich kommt. Als absoluter Geist, also von allen Voraussetzungen, historischen Entwicklungen und Abhängigkeiten gereinigt, war dieser bei Hegel Wissenschaft (Philosophie), Kunst und Religion. Kunst und Religion antizipierten diesen Geist von frühester Menschheitsgeschichte an, Wissenschaft sollte, so Hegels Anspruch an sie, die Antizipation und sich selbst, die Wissenschaft, begreifen.
Dieser Geist war bei Hegel keineswegs gegen alle Erfahrung geradlinig fortschrittlich, sondern dialektisch. Er stolperte und stürzte mehr unbewusst als gewollt mit gierig-blutiger Fratze und stets mit List durch die naturwüchsige Herrschaftsgeschichte der menschlichen Gattung. Das war Hegel bewusst, wie keinem Denker zuvor und doch: Den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit konnte er nur behaupten, indem er einen Großteil der menschlichen Geschichte unter den Tisch kehrte, bzw. die Schädelstätten der Geschichte als Humus für den Entwicklungsprozess des Geistes umdefinierte. Denn würde der Geist wirklich zu sich kommen, dadurch, dass er sich selber immer bewusster würde, müsste eine wirklich menschliche Gesellschaft in Sichtweite sein. Es müsste eine Reduktion der Ausbeutung, Kriege und der Verschwendung menschlicher Leben feststellbar sein, die Gesellschaft müsste immer bessere Institutionen und schließlich Menschen ausspucken, die diesen Namen verdienten, aber das Gegenteil war und ist der Fall. Deswegen wendete Hegel einen Trick an: Die List der Vernunft musste es richten. Die besagte verkürzt, dass wenn alle nur ihren eigenen Vorteil suchten, müssten sich die Menschen auf Institutionen einigen, die letztendlich das Allgemeine gegenüber dem Partikularen bevorzugten. So würde sich die Vernunft hinterrücks und ohne direkte Intention der Akteure durchsetzen und die Privilegien Weniger abschaffen zu Gunsten Aller und jedes Einzelnen. Und tatsächlich setzte sich im bürgerlichen Zeitalter der friedliche Konkurrenzkampf der Warenbesitzer gegenüber dem Privileg des Adels durch, die Republik, die die Vielen repräsentierte, gegen die Monarchie, die nur den Einen kannte etc. Es sah also zu Hegels Zeiten tatsächlich so aus, dass mit der Machtübernahme des Bürgertums zusammen mit den Ideen der Aufklärung der Sonnenaufgang der Menschheit anstand und die bisherige Geschichte, trotz des vielen vergossenen Blutes, dorthin strebte. Hegel projizierte diese Erfolgsgeschichte auf die gesamte menschliche Geschichte und auch heute glauben viele Menschen, dass eigentlich doch immer alles besser würde. Dieses Urvertrauen hat Hegel den Menschen in die Gehirne eingepflanzt. Obwohl schon damals Napoleon „als Weltgeist zu Pferde“ mit einer Armee im Schlepptau den petty german tribes (Thomas Paine) die Menschenrechte beibringen wollte, was die Zeitgenossen nicht ohne Grund befremdete.
Aber heute, im Zeitalter der Postapokalypse nach Auschwitz, Hiroshima und anderen alltäglich gewordenen gesellschaftlichen Naturkatastrophen, kann man ohne Übertreibung sagen, dass die bürgerliche Episode nur eine Anomalie der Geschichte war, kein Aufbruch, wie es Hegel interpretierte. Diese Anomalie war getragen von freien Märkten und konkurrierenden Bürgern, die spätestens mit der weiteren Verallgemeinerung dieser Ideen, also dem Scheitern der Emanzipation der Ausgebeuteten – der proletarischen Revolution – und der Aufhebung des Klassenverhältnisses vorüber war. Mit der Konzentration des Kapitals und dem Erstarken des Staates, als neureichen Schutzgelderpresser der Warenbesitzer, und damit des Imperialismus‘, des Nationalismus‘, des Faschismus‘ und schließlich des Nationalsozialismus’ und seiner Anti-Idee, die in der paranoider aber folgerichtigen Vernichtung aller Konkurrenten und eingebildeten Todfeinden sein Heil suchte, verkehrte sich die Aufklärung und die Emanzipation von unmittelbaren Gewaltverhältnissen in ihr Gegenteil. Die Idee des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit kann schon lange nicht mehr ihre eigene Entwicklung hinreichend erklären oder nur mit Hilfe einer idealistisch konstruierten inhärenten Vernunft, die sich allerdings an der Menschheitsgeschichte fortwährend blamiert. Die sympathische Idee der Wirklichkeit des menschlichen Gedankens, der sich von den Füßen auf den Kopf stellt, der die Menschen nach eigenem Gusto ihre Geschichte machen lässt, scheiterte schlicht an der Realität. Es war bereits die Realität des sich auflösenden bürgerlichen Zeitalters.
2 Die Zustände des Geistes
Bald nach Hegels Tod verlor der Begriff des Geistes an Glanz. Da sich Begriffe mit ihrem Anspruch[3], den sie stets mitformulieren, ändern, so tat dies auch der philosophische Begriff des Geistes, der einst seine Zeit in Gedanken fasste. Diese Zeit war die bürgerlich-liberale, die mit dem Begriff des Geistes ihre Aufhebung in menschliche Verhältnisse zumindest andeutungsweise antizipierte. Aber dieser Begriff ist bereits selber Geschichte. Einerseits zurecht, denn er ist zu schön, um wahr zu sein. Seine positive Attitüde des Fortschritts speiste sich aus den Erfahrungen des bürgerlichen Zeitalters. Als Charaktermaske des Kapitals erwirtschaftete die Bourgeoisie einen nie gekannten Reichtum für den Dritten Stand, den sie mit der Erkämpfung allgemeiner Individualrechte schließlich abschaffte und sich selbst an die Macht brachte. Die trifunktionale Ideologie der unmittelbaren Herrschaft wich dem Antagonismus der Klassengesellschaft, welches das Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis von nun an über Dinge vermittelte und so verschleierte und verkomplizierte. Die bürgerliche Revolution, ihre Antizipation und die Umwälzung der Produktivkräfte und mit ihr der Produktionsverhältnisse schufen so günstige Verhältnisse für die Entwicklung des Geistes in einer spezifisch-historischen Form, nämlich als Kritik. Dieser Geist konnte sich von nun an dem Gegenstand kritisierbarer Verhältnisse, die im Gegensatz zu den propagierten Ideen der Aufklärung, des Liberalismus und natürlich des Kommunismus’ standen, abarbeiten, sich schärfen. Die Idee des Liberalismus und erst recht die des Kommunismus, die aus der unterdrückten Arbeiterklasse wie ein Ertrinkender zur Wasseroberfläche strebte, standen im erkennbaren Widerspruch zur Wirklichkeit. Dieser Widerspruch ließ den Geist als Kritik noch einmal zu voller Blüte kommen, bevor er an seiner Nichtverwirklichung langsam abstarb. Schon der Marxismus war eigentlich keine Revolutionstheorie mehr, sondern er entstand als die Revolution scheiterte, ganz zu recht daher Marx: “Je ne suis par Marxist.” Marxismus war von nun an Reklame und Legitimationsfutter für autoritäre Regime des Spätkapitalismus. Deren Verblödung ließ sich am Spruchband-Marxismus und der Verewigung der Arbeiterklasse, anstatt ihrer Abschaffung, studieren.
Der endgültige Niedergang des Geistes war seine Instrumentalisierung für den Verwertungsprozess des Kapitals. Mit dem Ausbleiben des Vereins freier Menschen verflachte die Kritik, ihre antizipierende Kraft versiegte in dem Maß, wie sich die Wirklichkeit des beginnenden Spätkapitalismus‘ wieder vom emanzipatorischen Gedanken entfernte. Der Geist verblasste so andererseits zu Unrecht, weil er als Kritik an den bestehenden Verhältnissen doch mehr sein sollte, als ein letzes Ressort sich von der eigenen Ohnmacht zumindest nicht vollständig dumm machen zu lassen. Er sollte für die Menschen Antizipation der Revolution bleiben. (Krahl über den Begriff der Kritik.) Wenn aber die Wirklichkeit sich von diesem Gedanken in Lichtgeschwindigkeit entfernt und es keine Ideen und Ideologien mehr gibt, an der sich ein erkennbare Differenz auftut, die den Geist anstacheln könnte, dann kann dieser nur noch absterben. Jedenfalls wurde der Geist von nun an für die Verwertungsmaschinerie in Anspruch genommen, er wurde zum Schwungrad der Erhöhung des relativen Mehrwerts. Als technisches Wissen war der Geist aber kein Geist mehr, sondern Instrument. Als faule Existenz regrediert der Geist wieder in seinen Ausgangszustand, er verpuppt sich und wird wieder zur Ideologie. Die sogenannte Wissensgesellschaft ist dabei nichts anderes als die Okkupation des Geistes und seine Verstümmelung als Moment der Konsumtion der Arbeitskraft im Produktionsprozess. So bedeutet die Phrase des lebenslangen Lernens, die einem überall begegnet, nichts anderes als die Einübung in die totale Unmündigkeit, die jede Hoffnung und Ahnung autoritär austreibt, dass der Fortschritt der Produktivkräfte, die Befreiung von Natur oder Herrschaft befeuern könnte. Heute ist daher jeder Fortschritt ein Schritt in den Abgrund.
3 Geist als Ideologie und Wahn
Der Geist wurde aus der Ideologie geboren, im Spätkapitalismus regrediert er wieder gänzlich zur selben. Die Ideologie des Spätkapitalismus ist dabei aber nicht Priesterbetrug oder Gottesgnadentum wie in vormoderner Zeit, sondern das notwendig falsche Bewusstsein in seiner historisch-spezifischen, nämlich autoritären, Form: der Propaganda und der Reklame. Jedes Denken konvergiert zu dieser Form. Der Geist verhält sich zur Revolution wie die Produktivkraftentwicklung zu den Produktionsverhältnissen. Wie die Produktivkraftentwicklung ab einer bestimmten Entwicklungsstufe das bestehende Produktionsverhältnis sprengen muss, so hält es der Geist nicht mehr in der bornierten Atmosphäre veralteter Herrschaftsstrukturen aus. Deren Ideologie bricht vor den Möglichkeiten, die seine eigene Produktivkraftentwicklung entfaltet, in sich zusammen, die Vernunft lässt sich nicht länger zum Narren halten, der Geist wittert Morgenluft. Sein Überschuss drängt zur Kritik und Revolution, um diese Verhältnisse zu stürzen. Scheitert diese und wird unmöglich, regrediert er zu Reklame oder Propaganda und wird an sich selbst verrückt, wird zum offenen Wahn. Reklame und Propaganda sind dabei das, was Marcuse als den affirmativen Charakter der Kultur bezeichnete hinsichtlich des bestehenden gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses.
Der Stillstand der Dialektik der kapitalistischen Gesellschaft ist gleichbedeutend mit seinem Rückschritt, denn beurteilen lässt sich die Vorgeschichte nur von ihrem Ende her. Wenn aber die Entwicklung auf der Stufe des Kapitalismus aufhört, wird dieser eben zum verewigten Spätkapitalismus, als seiner Schwundstufe. Danach kann nur noch die reine Lehre der unmittelbaren Herrschaft von Menschen über Menschen kommen, aber nicht mehr mit den Waffen und Herrschaftsinstrumenten des Mittelalters oder der Antike, sondern des Atom- und Informationszeitalters. Das lässt den Geist natürlich nicht unberührt, im Gegenteil, er wird selbst zum Krisenphänomen. Er wird stumpf wie ein Messer, welches keinen Schleifstein mehr kennt, dabei wird es nicht stumpf durch seinen Einsatz, sondern verrostet langsam durch die Feuchtigkeit der Luft, in der es nur noch ziellos umher fuchtelt.
Die Gefahr des Zerfalls des Geistes begleitet ihn seit seiner Entstehung. Und zwar immer dann, wenn er aus der Ideologie geboren wieder von ihr übermannt wird, wenn das Objekt, an dem er sich schärfte und bildete, sich ihm entfremdet, wenn die Lüge zur Wahrheit wird. Wo der Geist sich nie hingegen richtig durchsetzen konnte, wo der Kapitalismus oktroyiert wurde, blieb er immer in ideologischer Form Surrogat, bzw. wurde seine faule Existenz mit dem Untergang des Bürgertums Avantgarde. In Deutschland bspw. blieb er lediglich Surrogat für die Nichterlangung der wirklichen, der politischen Macht, deswegen musste er die unwirkliche in Beschlag nehmen, war nicht Bürgertum, sondern Bildungsbürgertum. Er hatte nicht Macht, sondern nur destillierten Geist, und zwar den reinen, zum Geniekult erhobenen, den man wie ein Heiliges verehrte und dessen Herkunft man sich alsbald aus dem rassischen Erbe halluzinierte. Nur in diesem Milieu konnte bspw. der akademische Grad des Doktors zum Adelstitel des Kleinbürgertums mutieren, den man sich bis heute in den Pass drucken lassen kann.
Mit dem Verlust des Moments der Kritik der Wirklichkeit am Maßstab der Idee der befreiten Menschheit, der Antizipation und der Utopiefähigkeit, die durch die scheinbare Unverrückbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgerufen wurde, verlor der Geist an Richtung, löste sich auf, zersplitterte und wurde, weil unerreichbar, zu seinem Gegenteil: Geistesfeindschaft. Einer dieser Schwundformen ist vor allem die Überanpassung an die Wirklichkeit durch den Positivismus, den es unbewusst darum ging, den erzwungenen Zustand durch Affirmation sich selber schmackhaft zu machen. Die Lüge musste zur Wahrheit werden, der Gefangene zum freiwillig Gefangenen, der seine Gefangenschaft liebt. Vor allem in Wissenschaft und Politik wurden solche Überanpassungen mit Positionen belohnt, die ein hohes Einkommen und einen beachtlichen gesellschaftlichen Status versprachen. Dort entstehen die vom Objekt entfremdeten Theoriesprachen, die nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch ohnmächtig geworden sind. Die Theorie sucht ihre Substanz daher im schlecht Metaphysischen, in der Rasse, in Genen, in Epiphänomen des Überbaus: der Kultur; und ist geschult an biologisch-organizistischen Metaphern.
Eine andere leblose Hülle des Geistes ist der Popanz, der um die Kultur veranstaltet wird. Deren Hypostasierung konnte sich besonders als Hochkultur dort durchsetzen, wo der Geist sich nie materiell verwirklichen konnte, also dort wo die bürgerlichen Revolutionen scheiterten und die Barbarei direkt an die Konkurrenzgesellschaft anknüpfte ohne eine Verinnerlichung des emanzipativen Charakters der bürgerlichen Gesellschaft. So diente der Konsum und das Kennertum von Hochkultur als Ausdruck des gesellschaftlichen Status, als klassenspezifische Distinktion, später als Aufwertung der eigenen Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt und notwendig kalte Eitelkeit des autoritären Charakters. Was man übrigens auch der Kunst selbst anmerkt, auch sie hat in ihren Hauptströmungen jegliche Dialektik und ihren Geist verloren, sie ist selbstreferentiell und der Künstler ist ein Popstar oder Guru geworden. Das Kunstwerk wird dabei entweder musealisiert oder zur Geldanlage. So ging Kunst ein in den aufgebahrten Warenkanon der Kulturindustrie, die einst auch die Volkskunst in die Ware des Trosts und der Anpassung verwandelte. So ist selbst die Blume an der Kette ziemlich welk geworden, dem Elend werden keine oder kaum noch Glanzpunkte mehr aufgesetzt (Pohrt: 1984 S. 85 – 101), sondern ihm selber immer und immer wieder die Melodie des anpassenden Überlebenskampfes vorgespielt.
So kommt in der Kultur heutzutage alles Schlechte zusammen: “Vielleicht in Anlehnung an seine dubiose Herkunft (Kult und Kultur, also Hokuspokus und Ackerbau) bezeichnet das Wort zweierlei: Einmal zu höchster Reinheit filtrierter und hochdestillierter, ganz immateriellen Geist, auch als Kreativität, Phantasie, Spontanität oder Genialität bezeichnet; zum anderen in der gehaltvollen Heimatkrume wurzelndes rohes und deshalb echtes Volkstum mit seinen derben Sitten und Gebräuchen.” (Ebd.) Der Begriff hat die ideologisch äußerst fruchtbaren Vorteil einerseits aus- und abzugrenzen, andererseits äußerst flexibel und unbestimmt zu sein. Die Rede vom Unterschied der Kulturen ist der Rassismus der Schöngeister (Ebd.), die Legitimation des Imperialismus früher und die Begründung für das Privileg und die Besitzstandwahrung heute gegenüber der Peripherie der spätkapitalistischen Weltgesellschaft. Deswegen ist heute die Kultur auch das Signalwort für den grassierenden Identitätswahn, der die Linke fast stärker als die Rechte als letzte Selbstversicherung ihrer Kollektividentitäten befallen hat und jeden neutralen Beobachter in Verzweiflung stürzt. Denn es ist nicht mehr auszumachen, wer, wer ist, deswegen auch das ewige Bekenntnis links zu sein, um ja nicht verwechselt zu werden, mit denen, die man so verbissen bekämpft. Die Angst vor dem Abstieg der dadurch verhärteten Individuen und vor der Globalisierung, die nichts anderes meint, als dass die ehemaligen Kolonialstaaten jetzige Konkurrenten auf dem Weltmarkt geworden sind im großen Wettlauf um den Wohlstand der Zukunft, wird in der moralisch aufgedunsenen Phrase der Diversität versteckt. Die ganze Welt wird so zu einer Welt der Kulturnationen oder der Kulturkreise (Huntington) umgelogen. Bei dieser Lüge handelt es sich allerdings um alten Wein in neuen Schläuchen. Die Argumentation ist altbekannt und kommt aus Deutschland: Es war der Trick die nationale Einheit auch ohne bürgerliche Revolution und ihre humanistischen Errungenschaften herzustellen, statt politischer gab es eine kulturelle Einheit, durch gemeinsame Sprache, Abstammung, Sitten und Gebräuche und Kulte verbürgt (Ebd.). Mit anderen Worten, es handelt sich um Stammeskulte, anstatt um Kultur, die erst in der Sphäre der Freiheit von Vorschriften und vereinheitlichten Zwängen (Ebd.) des Gemeinschaftskultes entsteht. Die Welt regrediert zum geistlosen Überlebenskampf aller, der zur Gemeinschaft drängt als Naturnotwendigkeit, um die eigene Schlagkraft zu erhöhen. Die Kultur ist dabei die Ideologie des neuen Stammesbewusstsein der nachbürgerlichen Ära, der Spätkapitalismus baut sich mit ihr seine eigene Legitimation.
Ideologiekritik muss heute wieder ganz von vorne anfangen. Zum ersten mit der Erkenntnis, dass die menschliche Geschichte nicht eine Kulturgeschichte ist, sondern “überall und zu allen Zeiten […] Ausbeutungs- und Unterdrückungsgeschichte” (Ebd.) und somit Vorgeschichte. Zum zweiten, dass damit die Kultur nicht Explanans sein kann, mit der die Welt erklärt werden kann. Vielmehr muss ihr affirmativer und illusionärer Charakter aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erklärt werden. Das impliziert die Einsicht, dass der Charakter der Kultur affirmativ ist, “wer den Überbau anhimmelt, muss auch die Basis”, sprich die Herrschaftsverhältnisse, “wollen”(Ebd.). Der Umstand, dass es Kultur als nicht-funktionale Struktur verschiedener Bräuche und Sitten überall gibt, ist dabei so banal wie nicht erklärungsbedürftig hinsichtlich einer Emanzipation von den herrschenden Produktionsverhältnissen. Die Kritik der Kultur hat dabei nicht die Aufgabe sie abzuschaffen, sondern über ihren affirmativen und illusionären Charakter aufzuklären. Denn: “Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.” (Marx) Zur Wiederbelebung des Geistes müsste also die Flaschenpost der Kritischen Theorie eher früher als später entkorkt werden, der (Un-)Geist der Zeit spricht freilich dagegen, wenn seine Träger lieber “dem Klappern der Kulturmühle lauschen, als wäre es das Leben des Geistes, während es doch nicht mehr ist als Geistesleben.” (Adorno, GS 15, S. 164)
[1] Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 2006, S. 204. Webers Bonmot (getarnt als unausgewiesenes Zitat) soll nur hier verdeutlichen, dass auch in den luzidesten Texten bürgerlicher Wissenschaften erkannt wurde, dass die kapitalistische Gesellschaft die Menschen trotz der immensen Entwicklung der Produktivkräfte verstümmelt. Weber nutzt den Begriff “Geist” anders als hier gemeint, eher als innere Haltung, als Glauben (believe), tiefste Überzeugung, wie sie aus der protestantischen Ethik, insbesondere dem Calvinismus, kommt.
[2] Den Heilsversprechungen dieser Barbarisierung des Geistes konnte auch Weber selbst sich nicht ganz entziehen, so war er Mitglied im nationalistischen Alldeutschen Verband, er war vor dem 1. Weltkrieg zunächst auch kriegsbegeistert und sein Polenhass, dem er in manchen Schiften Ausdruck verlieh, ist bekannt.
[3] Sagte man vor einigen Jahrzehnten noch, dass einem irgendetwas oder irgendjemand auf dem Geist gehe, so taucht dieses Wort heute fast nur noch im altertümlich anmutenden und langsam aussterbenden Begriff der „Geisteswissenschaft“ auf. Aber selbst dieses Wort ist eigentlich schon ein Verfallsprodukt des Geistes. Wo etwas Wissenschaft wird, im modernen Sinn, ist es bereits vom Geist gereinigt. Aber im Wort Geisteswissenschaft erinnert noch an die aus dem menschlichen Geist geborenen Disziplinen, die an der Universität gelehrt wurden, nämlich Philosophie, Theologie, Recht etc.; im Bereich der Naturwissenschaften ist dieses Bewusstsein bereits völlig verloren gegangen, ihre Begriffe und Formeln stammen, so fast ausnahmslos die Meinung der meisten Menschen, aus der begriffslosen Natur selbst.
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