Der akademische Antisemitismus, der Antisemitismus, der an Hochschulen, von den Institutionen selber, von Studenten, Dozenten und verschiedenen Gruppen ausgeht und praktiziert wird, ist nicht neu. Es gab ihn früher schon, und es gibt ihn heute noch – aber etwas hat sich grundlegend verändert. In den USA wird darüber berichtet, insbesondere von Organisationen, die den Antisemitismus aufdecken und bekämpfen, wie der ADL. Über die Ursachen liest man weniger, deshalb soll hier eine These über die Ursachen des neuen Antisemitismus im akademischen Umfeld vorgestellt werden.
Der akademische Antisemitismus war im 19. Jh. bis Mitte des 20. Jh. besonders in nicht-liberalen Staaten an den Hochschulen präsent, zugleich war er aber in diesem Umfeld weniger manifest als im jeweiligen Bevölkerungsdurchschnitt. Er war z. B. bei deutschen Burschenschaften, Studentenverbindungen etc. virulent; vom Exodus der jüdischen Intelligenz an deutschen Hochschulen bei Machtübernahme des Nationalsozialismus ganz zu schweigen, die im Übrigen die Hochschullandschaft in Deutschland bis heute nachhaltig beschädigte. Es gab darüber hinaus in verschiedenen Ländern Quoten für Juden, um ihre Anzahl an den Unis möglichst gering zu halten, sogar in den USA. In anderen Ländern durften sie überhaupt nicht studieren oder ihre akademischen Karrieren wurden systematisch behindert. Der deutsche Privatdozent wurde dereinst speziell für die Juden geschaffen, um sie von den Lehrstühlen fern zu halten. Gesellschaft und Staat wollten in ihren höchsten Bildungsinstitutionen, die für Führungspositionen ausbildeten, möglichst keine Juden sehen. Die Beispiele sind mannigfaltig und in ihrer Vielfalt hier nicht von Belang. Festzuhalten ist lediglich, dass dieser Antisemitismus vom gesellschaftlichen Umfeld, in dem er manifester war als heute, in das akademische Milieu ausstrahlte und sogar staatlich gefördert und unterstützt wurde.
In den heutigen westlichen Staaten ist diese Diskriminierung verboten und geächtet. Bildung und Aufklärung gelten nicht ganz zu Unrecht als Mittel der Bekämpfung von Antisemitismus. Die höchsten Bildungseinrichtungen wiederum sind die Hochschulen, ergo muss dort der Antisemitismus am geringsten sein. Die aktuelle Entwicklung an amerikanischen und britischen Unis widerlegt dieses Selbstverständnis oder beweist zumindest, dass es nicht so einfach ist. Es scheint sogar soweit gekommen zu sein, dass der Antisemitismus an vielen Hochschulen durch bestimmte Gruppen manifester ist als im Bevölkerungsdurchschnitt; scheinbar also von den Universitäten mehr in die Gesellschaft ausstrahlt als umgekehrt. Und diese Entwicklung nimmt ihren Anfang in Hochschulen solcher Länder, die sich als traditionell liberal verstehen wie den USA und Großbritannien. Was ist also passiert?
Freilich äußert sich der politisch korrekte Antisemitismus nicht einfach und sofort als Hass auf Juden, dafür sind die gesellschaftliche Ablehnung und die staatliche Sanktionskraft (noch) zu stark. Sondern er nimmt einen Umweg über sein gesellschaftlich akzeptiertes und scheinbar moralisch gerechtfertigtes Ersatzobjekt, den jüdischen Staat. So stellte die ADL eine signifikante jährlich zunehmende Anzahl israelfeindlicher und antisemitischer Vorfälle an amerikanischen Hochschulen fest. Besonders im Zusammenhang mit der BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, Sanctions), die mit dem Vorwand des guten moralischen Motivs oft die Rolle des Initiators, Katalysators und des Verbreiters des manifesten Antisemitismus an Hochschulen spielt. Ausgehend von diesen vordergründigen Aktivitäten entfaltet sich der Antisemitismus an den Hochschulen bereits auch als unverdeckter, bspw. wurden Studentenwohnheime mit jüdischen Bewohner mit Hakenkreuzen und “Jude” beschmiert sowie ihnen Gewalt angedroht.
Es hat wenig Sinn, sich mit den konkreten Anschuldigungen der Antisemiten gegen die Juden auseinanderzusetzen, ein guter und nobler Grund findet sich immer. Vielmehr ist Blick auf die Funktion, den der Judenhass im psychischen Haushalt derer einnimmt, die Israel an den Pranger stellen, ungeachtet des weltweiten Leids, in der die die Auseinandersetzung Israels mit den Arabern objektiv kaum mehr als eine Randnotiz sein dürfte.
Meine These ist, dass es für das Manifestieren des Antisemitismus’ heute v. a. eine gewisse reflexive Distanz des Individuums zur Gesellschaft braucht, die im akademischen Umfeld eher zu finden ist als im Bevölkerungsdurchschnitt. Diese Distanz wird durch eine nicht komplette Identifizierung der Individuen mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten erzeugt, sie ist die Vorbedingung für Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Dadurch ist ein Bewusstsein für das Gemachtsein der Gesellschaft, für ihre Herrschaftsverhältnisse und der Rolle des Staates vorhanden. Durch welche Gesellschaftstheorien diese Distanz erzeugt wird und wie diese einzuschätzen sind, würde hier zu weit führen, entscheidend ist zunächst einmal dieser Abstand selbst. Dabei muss berücksichtigt werden, dass diese Distanz eine abstrakte, theoretische ist, eine die nur in den Köpfen dieser Kritiker existiert und die sie vermeintlich dazu befähigt, die Welt zu verstehen und ihre Lenker zu kritisieren. Die Reflexion, dass auch sie selbst totale Subjekte der Gesellschaft sind, fällt aus und damit die immanente Kritik an der historisch-spezifischen Gesellschaftsform gemessen an ihren inhärenten Möglichkeiten. Die Kritik verflacht zum Ressentiment, macht die Kritiker zu Getriebenen ihrer Wünsche, Vorstellungen, Vorurteilen und ihres Neids auf die Privilegierten, zu denen sie sich selber nicht zählen. Sie bekämpfen die Mächtigen mit einer Sklavenmoral, die sich zu offenen Wahn auswächst, in der sich die Privilegierten als allmächtige Drahtzieher entpuppen, die zu bekämpfen und zu vernichten, Erlösung von allem Unheil verspricht. Dabei kann es sich nur um die Juden handeln. Damit ist das antisemitische Ressentiment der Subjekte der kapitalistischen Gesellschaft schlechthin reproduziert.
Die oben beschriebene Distanz war früher, als die kapitalistische Gesellschaft noch im Begriff war, sich durchzusetzen, als unreflektierte und tatsächliche mit der Verbundenheit zur Tradition wie von selbst gegeben. Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaft auf weltweitem Maßstab und der totalen Verinnerlichung ihrer Anforderungen in ihren Zentren, die zugleich ihre Geburtsstätten waren, ist dieser Abstand in der Bevölkerung verloren gegangen. Die totale Identifizierung mit ihr, die totale Anpassung an sie, Zufriedenheit im Massenkonsum lassen keinen Platz mehr für eine Distanz zu ihr; die eigentlich historisch-spezifische Form der Gesellschaft ist zur zweiten Natur im allgemeinen Bewusstsein geworden, an die es gilt, sich anzupassen oder unterzugehen. Das erklärt auch das geringere Ausmaß an Antisemitismus in den liberalen kapitalistischen Zentren. Die Universitäten sind sozusagen die letzten Reservate der reflexiven Distanz in den kapitalistischen Zentren, diese Distanz selbst ist die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für den Antisemitismus.
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Allerdings gibt es noch einen Ort, wo diese Distanz sehr häufig anzutreffen ist, nämlich in der Peripherie, oft auch Dritte Welt genannt. Zwar hat sich auch hier die kapitalistische Gesellschaftsform nahezu restlos durchgesetzt, sie konnte aber nicht den ökonomischen Wohlstand und Massenkonsum des Zentrums erzeugen. Einerseits, weil der historische Vorsprung des Zentrums gewaltig ist und andererseits produziert dieser Vorsprung ein Gefälle des Produktionsniveaus zur Dritten Welt, das sie systematisch daran hindert zum Zentrum sozioökonomisch aufzuschließen. Der Widerstand gegen die Erste Welt ist dabei die Konsequenz und der Ausdruck für die Nicht-Identifizierung der Bevölkerung mit der kapitalistischen Gesellschaft. Dieser Ausdruck ist meist regressiv. Antisemitismus, Anti-Amerikanismus, Hass auf den Westen, völkischer Nationalismus, Besinnung auf repressive Traditionen und Religionen, Bandenbildung und Gewalt bestimmen oft das Bild.[1]
An den zunehmend international ausgerichteten Universitäten der liberalen Ländern mit diversen Stipendien auch für Studierwillige aus der Peripherie kumulieren sich nun diese verschiedenen Individuen zu einem bandenähnlichen Gemisch, das in den Medien unter dem Label der sogenannten linken Hochschulgruppen firmiert. Deren abstrakte Kapitalismuskritik kennt nur ein Ventil, den jüdischen Staat. Abstrakte Kapitalismuskritik – d.h. das Subsumieren alles Schlechten unter diesem Begriff oder die Aufteilung in den guten (produzierenden) und schlechten (Finanzkapital) Kapitalismus – schlägt zwangsläufig in Antisemitismus um, da sie sich durch die nicht vollzogene mühsame Konkretisierung in einfache Personalisierungen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse verfängt. Der Antisemitismus hat grob vereinfacht immer die psychische Funktion, das Schlechte aus den Ambivalenzen der Gesellschaft abzuspalten und auf einen konkreten Gegner zu projizieren, der dann bekämpft werden kann, um den aufgestauten Aggressionen verwehrter Triebbefriedigung leichte Abfuhr zu ermöglichen. Da unter dem Begriff Kapitalismus unisono alles Schlechte subsumiert wird und seine tradierte Personifikation die Juden schon sind, bekämpft man sie, und als politisch und moralisch akzeptierte Form ihren Staat Israel.
Ebenso verfahren diese Gruppen mit ihrer Kritik an Nationalstaaten, ohne die Ambivalenzen staatlicher Gewalt zu reflektieren, wird sie einfach als Macht monopolisierendes Korrelat der kapitalistischen Gesellschaft verdammt. Wiederum tobt sich die aufgestaute Aggression an Israel aus, schließlich handelt es ja um einen kapitalistischen Staat. Dass dieser der einzige ist, der Demokratie und Menschenrechte im Nahen Osten garantiert, auch für israelische Araber, ficht nicht an. Die Realität hat sich dem Ressentiment zu beugen. So wird Israel als Apartheitsregime imaginiert, an dem sich das gute Gewissen abarbeitet.
Insgesamt lässt sich eine Form von Arbeitsteilung in der Denunziation und Delegitimierung Israels von verschiedenen Gruppen an den Hochschulen beobachten: Die Studenten der Ersten Welt bilden deren Massenbasis, durch deren reflexive Distanz sich der Wille zur Besserung der Welt im Moralisieren ausdrückt. Den Weg zur “Israelkritik” als gesellschaftlich akzeptierten Antisemitismus finden sie dabei von selbst durch ihren abstrakten Antikapitalismus. Die Studenten der Dritten Welt bilden die materielle und empirische Basis der universitären Bewegung, – die Kronzeugen und Anheizer. Sie radikalisieren und kanalisieren die Massenbasis für ihre konkrete Interessen – die selbst wiederum vom Judenhass durchzogen sind und ihr Bild von der Realität bestimmen – in bestimmte Agendas, wie bspw. die BDS-Kampagne palästinensischer NGOs.
Sie tun dies mit Mittel, die sie sich von demokratischen Institutionen abgeschaut haben, um ihre Legitimität zu beweisen, nämlich als NGOs, die anscheinend demokratische Ziele verfolgen und vorgeben, Menschenrechte durchsetzen zu wollen. Diese Maske bereitwillig akzeptierend oder die versteckte israelfeindlichen Agenda insgeheim befürwortend spenden westliche Demokratien und ihre Organisationen Millionen von Euros und Dollars. Anders ist es leider kaum begreiflich, da selbst eine kurze Internetrecherche, die wahren Absichten dieser NGOs leicht entlarvt. Der Propaganda-Apparat der palästinensischen Organisationen in Gaza und Westbank ist überhaupt beispiellos erfolgreich, da er die westliche Psyche und ihre unterschwelligen Wünsche, besser als diese sich selbst zu verstehen scheint.
Die BDS-Bewegung ist nun eine gemeinsame Kampagne von 170 palästinensischen NGOs, unterstützt von vielen westlichen Geldgebern. Sie will, wiederum nach dem Vorbild demokratischer Sanktionen gegen autokratische Regime, vordergründig die internationale Gemeinschaft zu Sanktionen, Boykotten und den Abzug von Investitionen in Israel bewegen. Dabei nutzt sie für ihre Propaganda gezielt die Assoziation zum südafrikanischen Apartheidsregime. Denn die BDS-Kampagne ist direkt nach dem Vorbild der Sanktionen gegen dieses rassistische Regime konstruiert. Die antisemitische Imago des Apartheitsstaates Israel soll mit der weltweiten Anerkennung dieser Bewegung wahr und in eine Waffe für arabische Ziele verwandelt werden, die in der Vernichtung Israels kulminieren. Die Ziele dieser Bewegung sind zunächst die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge aus dem Libanon und aus Jordanien, die dort seit Jahrzehnten gezwungen sind, in Lagern zu leben. Außerdem sollen alle arabischen Israelis gleiche Rechte wie jüdische bekommen. Das ist pure Propaganda, da sie diese natürlich schon längst besitzen und in keinem anderen arabischen Land genießen, schon gar nicht unter Hamas und PLO.[2] Und zu guter Letzt fordert sie das Ende der Besetzung und Kolonialisierung (sic) der Gebiete, die Israel aufgrund mehrfacher Angriffe der arabischen Staaten von Jordanien als Sicherheitszone annektieren musste, damit bei erneuten Angriffen die urbanen Zentren Israels, Jerusalem und Tel Aviv, nicht sofort dem Massenmorden preisgegeben werden. Damit wäre das Ende Israels besiegelt, von innen würden Terroranschläge die Bevölkerung zermürben. Hamas und Hisbollah würden durch die Rückkehr der Flüchtlinge ihre Truppen vervielfachen. Das ist übrigens der gar nicht so heimliche Grund, weshalb die Lager immer noch bestehen und enorme Geburtenzahlen vorweisen. Mit dem Ende der Besatzung würden diese Truppen dann direkt vor den Toren Jerusalems und Tel Avivs stehen.
Zusammenfassend: An den Universitäten treffen sich wohl zum ersten Mal die sich als benachteiligt und betrogen empfundene und von Zukunftsängsten geplagte Avantgarde der Ersten und die Vordenker der Vernichtung aus der Dritten Welt. Dort verschmelzen abstrakte Gesellschaftskritik und konkrete Interessen zur Vernichtung Israels unter der falschen Flagge der Menschenrechte zu einer antisemitischen Melange mit einem weitgefächerten Spektrum von allgemein akzeptierter „Israelkritik“, über Einschüchterung jüdischer Studenten bis hin zu klar geäußerten Vernichtungswünschen gegenüber Israel. Diese Bewegungen sind die akademische Vorhut und Fanal der Unzufriedenen unter den Krisenbedingungen der verbliebenen zwei Welten, deren abstrakte Gesellschaftskritik sich zu einem moralisierenden Nihilismus auswächst, der es auf Zerstörung von Gesellschaft überhaupt absieht, nicht auf ihre historisch-spezifische Form. Denn ihre gemeinsame Utopie sieht letztlich nicht mehr vor als einen wachsweichen Gemeinschaftsethos. Dadurch, dass sich die Kritik allein an Israel entzündet und radikalisiert, entblößt sie sich als Antisemitismus. Dieser wächst sich zu einem Erlösungs-Antizionismus[3] aus, an deren Ende der feuchte Traum aller derer steht, die sich mit dem Opfermythos der Palästinenser identifizieren, nämlich der konkreten Vernichtung Israels und damit der abstrakten Vernichtung der eigenen Wahnvorstellung alles jüdisch konnotiertem – alles Schlechten und Gesellschaftlichen, alles Kalten, Waren- und Geldförmigen, dem Finanzkapital und der Ausbeutung – als Erlösung.
[1] Auch den IS würde ich als Krypto-Nihilismus einordnen, der religiöse Fundamentalismus scheint vorgeschoben als rationales Motiv gegen den Unglauben. Sozusagen Sinnstiftung, wo Sinn fehlt bzw. verbaut ist und als Rechtfertigung für das Wüten gegen die Zivilisation, von der sie ausgeschlossen sind. Die extremen Gewalttaten und die Entwürdigungen ihrer Opfer scheinen übrigens wie direkt aus den Gewaltdarstellungen der westlichen Kulturindustrie übernommen, die solche Amokläufe in ihren Action- und Kriegsfilmen szenisch immer expliziter darstellt.
[2] Gewisse Einschränkungen sind lediglich durch Sicherheitsbedenken zu erklären, deren Notwendigkeit sich aus den aus blutigen Erfahrungen der Israelis mit Terroraktionen israelischer Araber ergaben.
[3] In Anlehnung an die These Saul Friedländers vom Erlösungsantisemitismus der Nationalsozialisten.
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