Der folgende Text wurde ursprünglich für einen Essaywettbewerb geschrieben, aber dann doch lieber nicht eingereicht. Das Thema war: Wie sieht Bildung im digitalen Zeitalter aus?
Ist Bildung einfach internalisiertes spezifisches Ausbildungswissen plus sogenannte Allgemeinbildung, das irgendeinem Bildungsideal folgt? Impliziert die (R)Evolution von technischen Medien automatisch einen Fortschritt in der Bildung? Die ideologischen Voraussetzungen dieses Essaywettbewerbs sollen nicht einfach hingenommen werden, sondern als Ausgangspunkte dienen, um einen Begriff von Bildung zu entwickeln und ihre beschränkte Existenz in der historisch-spezifischen Gesellschaftsform, in der wir leben, nachzuzeichnen. Dabei soll deutlich werden, dass neue Medien nur unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen die Hoffnungen bezüglich der Bildung erfüllen, die in sie gelegt werden.
Die Formen der Wissensvermittlung, insbesondere die der modernen digitalen Medien in Gegenwart und Zukunft, beeinflussen die Art der Internalisierung des Wissens durch ständige Verfügbarkeit, Visualisierung und Anpassung an den individuellen Lernstil. Kurzum, die funktionale Wissensvermittlung wird in allen Fachbereichen perfektioniert, so die erste Prämisse dieses Essaywettbewerbs, die die allgemeine Meinung widerspiegelt, dass die Bildung eine einzige Erfolgsgeschichte sei, die die Naturbeherrschung durch Wissen und Technik sichert sowie ausbaut und zusammen mit den digitalen Medien und ihrem vernetztem Wissen eine “Wissensgesellschaft” schafft. Damit sei es aber nicht getan, und das humanistische Gewissen hakt zugleich nach – um sich zu beruhigen und zu versichern -, was denn die neuen Medien darüber hinaus dem Bildungsideal Gutes tun können? Denn zusammen werden sie – instrumentelles Wissen zum einen und Bildung und Moral zum anderen – den universellen Fortschritt der Menschheit und seiner Kultur sichern und beschleunigen; so viel steht fest. Das ist die zweite implizite Prämisse dieses Wettbewerbs. Die Frage ist nun, wie die neuen Medien dieser unwiderlegbaren Wahrheit zuträglich sein werden, wie wird das aussehen?
Der skeptische Ton lässt anklingen, was Sie beim Lesen sicherlich schon erraten haben, nämlich dass ich mich in diesem Essay auf die eingeengte Fragestellung allein nicht einlassen und kein Loblied auf die neuen Medien im Bezug auf die Bildung singen werde und zugleich mit dem erhobenen Zeigefinger auf etwaige Risiken hinweise oder vor Missbrauch warne. Das liegt nicht an den neuen Medien, der Digitalisierung oder der Technik überhaupt; unbenommen haben sie ein großes Potenzial, aber was sagt das schon? Die Frage ist doch eher, wozu diese Potentiale zu nutzen wären? Die Antwort dazu, vermeinen viele in dem zu finden, was abfällt, wenn man sich die fachspezifischen Inhalte des Wissen aneignet, der Bildung im Allgemeinen. Sie sind aber verunsichert und fordern, dass Bildung nicht nur dem Wissenserwerb dienen solle, denn sie behaupten, dass sich bilden nicht nur Faktenlernen, sondern auch Selbst- und Welterkenntnis sei. Ich werde versuchen, die vorgegeben Prämissen zu hinterfragen und dann auf Ihre Frage zurückzukommen.
(1) Was ist Bildung? Diese Frage muss irgendwie geklärt werden, um überhaupt zur Antwort zu gelangen, wie Bildung im digitalen Zeitalter aussieht? Das Problem dabei ist, niemand weiß das so genau. Wie unsicher der Bildungsbegriff ist, verrät schon sein Name – er ist eine Metapher. Das heißt übertragen aus einem Bereich, in dem seine Bedeutung gesichert ist, in einen anderen, fraglichen, der zwar eine Merkmalsübereinstimmung zum ersteren aufweist, in dem jedoch ungewiss ist, was er bedeutet, sich man aber von der Benutzung des analogen Begriffs Aufklärung verspricht.
Die früheste Bedeutung von Bildung geht wohl auf Platon zurück. Er berichtet, dass Sokrates der Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme war. Wie der Bildhauer aus einem Marmorblock ein Kunstwerk schlägt, solle sich der Mensch (in Wahrheit: der freie griechische Mann) erschaffen, sein Potential verwirklichen, und zwar, indem er seine bornierte Natur durch Wissen und Einsicht zu einem guten Individuum der Polis verändert. Wie in der Bildhauerei ist Bildung zunächst banal, bloße Veränderung, jede Interaktion mit der Umwelt lässt das Individuum durch Erfahrung sich ändern, umbilden, wie das Gestein oder der Marmorblock durch bloße Bearbeitung seine Form verändert. Die Interessen des Freien, artikuliert als seine Meinung trifft auf andere Meinungen; in der menschlichen Interaktion, im Dialog sollen sich die Meinungen durch Perspektivwechsel zu einer objektiven Wahrheit aufheben. So entsteht gesichertes Wissen, und mit der Unterscheidung von Wissen (episteme) und Meinung (doxa) ist die Wissenschaft geboren. Durch solches Wissen bekommt Bildung einen Kompass, der die Beliebigkeit der Meinung und die Subjektivität des Interesses transzendiert, durch ihre Aneignung kann aus dem Marmorblock ein David geschlagen werden. Bildung beinhaltet sowohl das besondere Interesse als auch die Allgemeinheit der Wahrheit und der Moral. Man sieht, Bildung ist zugleich auch kompliziert, sie darf sich nicht auf bloße Meinung stützen, sondern nur auf mühsam durch Dialog und Denken erworbenes Wissen. Bildung ist aber auch paradox, denn es bedarf des Unveränderbaren, der Identität des unverwechselbaren Individuums in seinem Bewusstsein (cogito). Die Widersprüche lösen sich auf, wenn man sie als untrennbare Momente einer Idee, des freien gebildeten Individuums begreift. Das eigene, noch bornierte Interesse wird mit dem Allgemeinen, was sich im Wissen ausdrückt, versöhnt, indem es sich zur Vernunft aufhebt. So können Denken und Wissenserwerb nie nur Leidenschaften des Kopfes sein, wie das heutige Bildungsideal idealistisch unterstellt, sondern sie sind als Kritik an den Zuständen, die der Vernunft widersprechen, vielmehr der Kopf der Leidenschaften (Marx).
Jede Bildung und Kultur in der bisherigen menschlichen Geschichte hat aber eine oft verdrängte Voraussetzung, sie basiert auf Herrschaft. Nur die Herrschenden haben die Muße – wie die antiken griechischen Männer einer Sklavenhaltergesellschaft, die für sie sorgt – den Reichtum und die Möglichkeit, solche Ideen zu entwickeln, für sich zu verwirklichen oder als Ideal zu proklamieren. Diese Idee und ihre Wirklichkeit hängen also von den sozio-ökonomischen Voraussetzungen und ihren Ideologien ab. So bleibt die Bildung als theologische Idee in der trinitarische Struktur des Mittelalters ein Privileg des Klerus. In der Neuzeit findet der Dialog vermehrt zwischen Individuen und der Natur statt, jene befragen diese methodisch durch Experiment und Beobachtung, um dann in Form eines bestallten Richters (Kant), die festgestellten Regelmäßigkeiten zu Gesetzen zu formulieren. In der Aufklärung werden die gesellschaftlichen Gesetze des Ancien Régime, die nicht nur ungeprüft, sondern offensichtlich dem gewaltsam durchgesetzten Privileg ihrer Urheber dienen, mitsamt denselben hinweggefegt. In der bürgerlichen Moderne und seiner verdinglichten Herrschaftsform schließlich wird die Formation von Denken, Bildung, Interesse und Vernunft wieder neu angeordnet. Bildung wird im Bürgertum zur Ware, zum allgemeinen Produktionsmittel der Warenverkäufer aller Art. An den Universitäten bspw. können Bildungszertifikate erworben werden, die zum Verkauf einer auf dem Markt nachgefragten spezialisierten (und privilegierten) Arbeitskraft berechtigen. Das Interesse gilt dem Verkauf der eigenen Waren, die Vernunft regrediert auf den Verstand, wie das zu bewerkstelligen sei, die Bildung ist dabei die Lösung; zugleich ändert sich dabei ihr Begriff, sie wird hinsichtlich dieses historisch-spezifischen Interesses – welches sich an die Forderungen der Gesellschaft adaptiert, um in dieser zu reüssieren – rein instrumentell, entfremdet sich von Subjekt und Objekt gleichermaßen. Das Denken büßt dabei jenen Horizont ein, indem es von der Theorie zur Kritik werden könnte. Letztendlich bleibt vom Bildungsbegriff ein Ideal, das zugleich Ideologie ist, weil es das fordert und zu sein ausgibt, was es nicht sein kann, ohne seine gesellschaftlichen Voraussetzungen wieder in Frage zu stellen.
(2) Nach dem notwendigen Parforceritt durch das holprige Feld der Bildung, soll nun die Frage, wie Bildung im digitalen Zeitalter aussieht, angegangen werden. Die Frage impliziert, wie dieses jene verändert? Können Medien die Idee und die Wirklichkeit der Bildung überhaupt ändern? Sie können, – aber können sie es allein? Wir wissen, dass Medien mehr als die Form sind, die den Inhalt transportiert. Schreiben hat nicht nur die Kommunikation über Raum und Zeit hinweg erleichtert, genauso wenig wie Gutenberg nicht nur die Buchherstellung vereinfacht hat. Denn keine Form kann ohne einen Inhalt existieren, wie kein Inhalt ohne Form. Der Inhalt wurde mit der Erfindung neuer Formen einem größeren Publikum zugänglich, das Schreiben änderte sich auf Grund dieser Tatsache. Aber die Unterscheidung hat ihren Sinn, die Form ist nicht der Inhalt, und sie kann ihn nicht retten, wenn sich in ihm die Gewalttätigkeit und Herrschaft der naturwüchsigen Unvernunft der menschlichen Kultur niederschlägt, vielmehr schlägt der Inhalt zurück: Sprache und Schrift werden ununterscheidbar vom Jargon der allgegenwärtigen Werbung, Meinung wird zu Propaganda oder Kritik zu Hetze, Mein Kampf z.B. wurde millionenfach gedruckt; und heute? Das Internet wimmelt vor Hetze, Mobbing, Schadsoftware etc., und in seinen Foren und Chaträumen tobt nicht selten der Mob, der seinen Ressentiments und Aufrufen zu Pogromen freien Lauf lässt.
Kann uns der Name eines neuen Mediums überhaupt etwas über unsere Zeit und unsere Welt sagen, oder verschleiert sie ihr gesellschaftliches Wesen nicht vielmehr? Eine Technik, die auf einem maschinenlesbaren Binärcode basiert, aus dem Programmiersprachen und Anwendungen sie für den menschlichen Gebrauch übersetzen, und eine weltweites Netzwerk dieser Maschinen – Computer und Server -, die ein neues Medium kreieren, können den Inhalt trotzdem nicht entscheidend tangieren, auch wenn es die Form, die den Inhalt ermöglicht, gigantisch ausweitet. Die Bildung erreicht so mehr Leute, einfacher und umfassender; es ist dieser verführerischer Gedanke, der die Ausweitung der Technik und der neuen Medien mit dem menschlichen Fortschritt überhaupt kurzschließt. Der Fortschritt der Form schlägt aber nicht irgendwann zum Guten oder in eine andere – bessere – Qualität des Inhalts um; die gesellschaftliche Realität wird für die Technikgläubigen zum Ort der Ent-täuschung (sic), denn dieser Fortschritt ist von anderer Natur. Seine Natur ist das Instrument, seine Nützlichkeit für die Menschheit ist ihm nicht immanent; ein Instrument, seine Verbesserung kann, bspw. in der Medizin, die Menschen heilen und länger leben lassen, aber ebenso kann die Entwicklung vom Knüppel zur Atombombe, anstatt eines Menschen, Millionen innerhalb einer Sekunde das Leben nehmen.
Sind neue Medien gut, sind sie schlecht – können wir ihre Potentiale sinnvoll nutzen? Wie immer bei Fragestellungen solcher Art, lautet die Antwort: Es kommt darauf an. Und zwar nicht, wie dargelegt, auf das Potential an sich, welches, nochmal, unbestreitbar ein großes ist. Es kommt auf die Individuen, ihre Institutionen, also ihre Gesellschaft an; ist sie vernünftig, haben die neuen Medien die Kraft, die Bildung endlich zum Allgemeingut zu machen; die Bildung selbst wird ihren Charakter ändern, sie wird sich ihrer Idee annähern, ohne sich zum Statussymbol oder zum ideellen Surrogat mangelnder realer Autonomie aufzublähen, sie wird Selbstzweck für die Individuen (Kant). Leben wir aber in einer Gesellschaft, deren den Menschen entfremdetes Prinzip der Verwertungsimperativ bleibt, ist diese an Bildung dementsprechend interessiert, wie sie verwertbar gemacht werden kann, d.h. wie sie sie allein in Technik, Dinge oder Dienstleistungen verwandelt, die Produktion steigert und schließlich immer mehr Waren verbilligt und verbessert ausspuckt.
Das implizite Geheimnis der Bildungsidee aber, ihr Gebrauchswert und ihre Wirklichkeit in der Produktivitätssteigerung, ist die Reduzierung und Abschaffung der Arbeit als Leid, als mühevolle, geist- und nervtötende tagtägliche Anstrengung und nicht ihre Verewigung, von der heute nicht einmal mehr die Privilegierten ausgeschlossen sind. Dieses Geheimnis ist der säkularisierte Wunsch der Rückerlangung des Paradieses, aber eines neuen, eines menschlichen Paradieses, eines das Lust und Geist nicht ausschließt, sondern geradezu danach verlangt. Die Realität der Bildung, ihr verkrüppeltes Ziel heute ist die Steigerung des relativen Mehrwertes (Marx). Wo der Fortschritt durch sie in den Fabriken oder Büros menschliche Arbeit durch Automaten aber ersetzt, wird er nicht bejubelt, denn er ersetzt damit auch die einzige Ware, die die Menschen verkaufen können, um ihnen die Integration in diese Gesellschaft zu garantieren, ihre Arbeitskraft. Diese ver-rückte (sic) Logik zielt aber auf Vollbeschäftigung, anstatt Reduzierung der entfremdeten Arbeit und somit gegen die Voraussetzung von Bildung überhaupt, freie Zeit. Wo die Menschen sich von der Arbeit erholen, in ihrer Freizeit, können sie nicht mehr die Anstrengung, die Bildung auch kostet, aufbringen und werden von der Kulturindustrie okkupiert, deren neues gigantisches Instrument die neuen Medien ebenfalls sind. Mit Benjamin gesprochen, “… möchte [Bildung] wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom [alten Gottes-] Paradiese her […] Dieser Sturm treibt [sie] unaufhaltsam in die Zukunft, während der Trümmerhaufen vor [ihr] zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.”[1]
[1] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, neunte These in GS Band 19.
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