Sein tiefgründig forschender Blick drang in das Prinzip des gesellschaftlichen Lebens ein und erfaßte die Welt um so besser, da er sie durch ein Grab hindurch sah. Er analysierte die Menschen und Dinge, um ein für allemal abzuschließen mit einer Vergangenheit, die von der Geschichte dargestellt, einer Gegenwart, die vom Gesetze gestaltet, einer Zukunft, die von der Religionen enthüllt wird. Er nahm die Seele und die Materie, warf sie in einen Schmelztiegel, fand nichts darin, und von dem Augenblick an wurde er DON JUAN. (Balzac: Das Lebenselixier, S. 166)
Wie im Kapitalismus das Klassenverhältnis durch die allumfassende Knechtschaft unter dem Joch der Produktion hinweggearbeitet wurde, wurde und wird noch zugleich die Differenz, darunter die Produktionsvoraussetzungen des Kapitals aus älteren Gesellschaftsformationen, die Natur und die Tradition, eingespannt, ausgebeutet und schließlich wegproduziert. Das Kapital produziert, nicht mehr behelligt von irgendwelchen Revolutionsphantasien, die dessen Produktionsniveau als Grundlage einer neuen Gesellschaft begriffen, seine eigenen Produktionsvoraussetzungen irreversibel als neue Welt nach seinem Bild. Das Äquivalentenprinzip, dass das Kapital über alle Daseinsbereiche ausdehnte, um die Dinge zu bewerten, zu vergleichen, zu tauschen, diese Werte in eine große Rechenmaschine werfend, um am Ende das große Plus durch Ausbeutung und ständige Akkumulation zu erwarten, wurde vom neuen Naturgesetz der Dinge zur Propaganda, nach der der Tausch längst nicht mehr funktioniert und kein Mehrwert mehr sich berechnen lässt. Vielmehr wurde der Betrug an der lebendigen Arbeit zum Betrug überhaupt, der Mehrwert speist sich heute nicht nur auf Ausbeutung, sondern Monopol und Staat, Marktmacht, dem Verfall des Gebrauchswertes, Absprache, Marken-Psychologie (Tauschwert als Gebrauchswert der Waren), Verfilzung mit Politik und organisierter Kriminalität; da es die Rationalität und Weitsicht des alten Unternehmertyps und Händlers dafür nicht mehr braucht, vielmehr rohe Gewalt und gute Beziehungen gefragt sind, ist das Kapital selbst zur Beute geworden. Kapitalist zu sein bedeutet heute nicht mehr, die Verbindungen zur organisierten Kriminalität erfolgreich hinter sich gelassen und verschleiert zu haben und mit der Beute erfolgreicher Unternehmer geworden zu sein, sondern die Unterscheidung hat seinen Sinn überhaupt verloren. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob es sich bei reich gewordenen Menschen, um Vorzeigeunterunternehmer, Strohmänner aus der Unterwelt oder einfach Verrückte handelt. Der Typ Elon Musk ist heute allgegenwärtig und vor allem ein Genie beim Abgreifen von staatlichen Förderungen und beim Einsammeln von Kapital fragwürdigen Ursprungs für die völlig irrsinnige Idee, den batteriegetriebenen Schrott von morgen als umweltfreundliche Alternative des privaten Personenverkehrs herzustellen. Überhaupt zielt jedes Start-up nur darauf ab, soviel Geld wie möglich einzusammeln, um die scheinbare oder wirkliche Lücke im Markt sofort für den Aufbau eines Plattform-Monopols zu ermöglichen, die Konkurrenz soll teilweise durch jahrelanges Verlustmachen beerdigt werden, Start-up und Geldgeber wetten zusammen als Komplizen auf den großen Reibach. Solch ein Kapital braucht keine Kapitalisten als Ausbeuter des Proletariats mehr, weil alle Menschen zur welchen wurden, seit der Arbeiter zum Unternehmer seines Selbst, zur Ich-AG, wurde und den Laden unter Umständen leitet. Diese Welt machte Don Juan vom Prototyp zum Auslaufmodell, der Kapitalist war tot, es lebe das Kapital!
Die Klassen, sichtbarer Beweis der Unterdrückung, Hoffnung und Legitimation für den gewaltsamen Umsturz, nivellierten sich zu qualitätslosen Schichten, die Arbeiter wurden zum Juniorpartner des Kapitals, die Oberschicht stellt heute die Funktionselite des Kapitals, des Staates und irgendwelcher Nichtregierungsorganisationen. Unten steht das Herr der Arbeitslosen und das Dienstleistungsproletariat; in der Mitte die Angestellten, hier herrscht der Karriere- und Wettbewerbsmodus bedingungslos, Indiz dafür, dass die Jobchancen hier sinken und die Angst groß ist, nach unten zu rutschen; in den Schaltstellen fließen Konkurrenzmodus, Korruption und Nepotismus ununterscheidbar zusammen. Die Mitte, im Weltmaßstab schon immer eine sehr schmale Schicht gewesen, fällt mehr und mehr auch in den Zentren des Kapitalismus zurück in das Dienstleistungsproletariat. Die graugesichtigen und verängstigten Angestellten, die in “ihrem wattierten Elend” (Pohrt) verbissen um Positionen gegeneinander kämpfen, verkörpern die ganze Sehnsucht der Unterschicht und der Migranten der Peripherie. Die Position des Proletariats, die Gruppe derjenigen also, die nichts zu verlieren haben, übernahmen die working poor und der arbeits- und perspektivlose Pöbel, der sich in den Zentren kaum noch von den Paupers der Peripherie unterscheidet. Diese “Deplorables” (Hillary Clinton) ist jeglicher Ausweg aus ihrer Misere verwehrt, weil ihre Arbeitskraft nicht mehr das Wert ist, was sie zum Leben brauchen. Wenn sie Glück haben, bekommen sie das Gnadenbrot der Lohnersatzleistungen und werden damit zum drangsalierten Subjekt von Staat und Verwaltung. Daher ist die Wut dieser Deplorables und der zukünftigen - von den Gelbwesten Frankreichs, über die Trump-Wähler der USA bis zu Teilen der AfD-Wähler in Deutschland - verständlich und zugleich ist es völlig logisch, dass sie unfähig sind einen anderen politischen Gegner auszumachen als das Establishment:
Die Indifferenz dieses Kampfes gegen das besondere Objekt – dies ist der Gehalt des Begriffs „Establishment“ – machte nur Ernst mit der richtigen Erkenntnis, dass der Klassenfeind personell nahezu unidentifizierbar geworden ist, seit selbst das Proletariat zum Komplizen und Teilhaber, zum Juniorpartner seiner Unterdrücker wurde, welche die Dritte Welt ausplündern. (Pohrt 1981, S.34)
Die Funktion der „Deplorables“ wandelte sich von der industriellen Reservearmee zur Fremdenlegion der Abschreckung für die abstiegsbedrohte Mittelschicht, die diese beständig mahnt: "Wer sich tot stellt, bleibt länger leben. Wer seinen Kopf nicht gebraucht, der darf ihn behalten. Wer kein menschenwürdiges Leben führt, kriegt danach Pension." (Pohrt) Hegel hatte recht behalten, nur anders als gedacht: die Knechte arbeiten ihre Herren zwar hinweg, nur sind sie selber ausgehöhlt worden, 200 Jahre Unterdrückung hinterlassen nun einmal ihre Spuren; es ist die Knechtschaft als Abstraktum, indem sich das Wesen des Kapitals äußert.
Das Kapital kommt [...] tendenziell ohne Subjekt, ohne menschlichen Willen, Bewusstsein und Vorstellungen aus - die "Entideologisierung", die sich freilich mit dem Aufkommen perfekter Wahnsystem bestens verträgt, ist keine Erfindung der Reaktionäre." (Pohrt 1976, S. 157)
Vielmehr ist der Utopieverlust bis zur Vorstellungslosigkeit über die eigene Realität eine logische Folge des Käfighamsterlebens, wie des Wahns als dessen Surrogat. Pohrt leitet den Ursprung des Wahns, dessen Auswirkungen vom Aberglauben über Verschwörungstheorien bis zum Vernichtungskrieg reichen, aus einer Überanpassung an die Realität her, die zwangsläufig ist, weil sie Voraussetzung ist, um im Konkurrenzkampf um "privilegierte Erwerbschancen" (Weber) zu reüssieren. Dazu macht die totale Abhängigkeit der neuen Klasse - einer Klasse, die aus einer Mischung von überangepassten Kleinbürgern, Paupern und Angestellten besteht - vom Machtapparat, ohne dass dieser den Großteil dieser Menschen überhaupt zur Ausbeutung noch braucht, die Individuen so schwach wie wohl niemals in der Menschheitsgeschichte zuvor. Konkurrenzkampf bedeutet heute nicht mehr, wer ist der bessere Kapitalist, sondern es geht darum, möglichst lukrative Positionen der Abhängigkeit im Apparat zu ergattern. Die Konsequenz daraus ist: “Je schwächer die Menschen werden, desto gefährlicher werden sie, und desto weniger ertragen sie Differenz.” (Pohrt)
Realitätssucht gebiert Realitätsflucht
Da die Welt nicht eine durch die Individuen gemeinsam als solidarische Menschheit für sich selbst geschaffene ist, sondern eine des Kapitals und ihnen somit fremd, unentrinnbar und unüberwindbar ist, kurzum sinnlos ist, wird die Realität willkürlich mit Sinn besetzt. Dieser Sinn setzt sich aus den pathischen Projektionen der Menschen zusammen, die wiederum verstärkt und gezielt gelenkt aus dem kulturindustriellen Apparat in die Individuen transportiert wird, sie als gleichförmige und gehetzte Individuen konstituiert und von vornherein wenig tauglich zur Reflexion macht. Themen wie Differenz und Diversity sind gerade deswegen in Mode, weil sie für Individuen nicht mehr gelten, und wenn, dann nur für solche Banalitäten wie Abstammung, Aussehen, sexuelle Vorlieben oder Kultur.
Der überangepasste Realitätssüchtige verlangt zugleich wahnhafte Realitätsflucht. Pohrt führt den Zulauf, den Sekten nach 1968 erfuhren, folgerichtig und ursächlich auf den Ekel vor der Zivilisation und der Realitätsflucht zurück, nachdem sich 1968 nicht als die Ausweitung des Kampfes der Dritten Welt in die Erste, sondern als Katalysator des Spätkapitalismus entpuppte. “Das Ergebnis der Protestbewegung war Massenwahn - die Hinterlassenschaft jeder gescheiterten linken Bewegung.” (Pohrt 1991, S. 301) Die Menschen waren nicht mehr so dumm wie zuvor, aber sie machten sich einen falschen Reim auf die Dinge, die sie zuvor kritisierten und mit denen sie weiterhin klarkommen mussten. Die Gräueltaten, die sie von nun an begingen, waren nun nicht mehr auf Bereicherung beschränkt, sondern beruhten auf der richtigen Vorstellung, dass es den Menschen besser gehen könnte und auf der falschen, dass dies auch mit den alten gesellschaftlichen Institutionen zu machen sei. Die Sekten konnten hier ohne Zwang anknüpfen und forderten von ihren Mitgliedern, diesen Ballast abzuwerfen und alles zu vergessen, an was sie sich erinnerten, um Abseits der Zivilisation neu zu beginnen. Zugleich wurde ihr Realitätsverlust im Jargon der Wissenschaft ventiliert, denn ohne Wissenschaft weiß längst kein Aberglaube mehr zu überzeugen. Der wissenschaftlich abgesicherte Sinn eines Wahnsystems aus Gemeinschaftsideologie und Realitätsflucht entspricht genau den Erwartungen der Jünger: „Die mörderische Anomie parierten sie nicht mit der Revolution, sondern mit dem Rückzug in die Gruppe.“ (Pohrt 1980, S. 52) Die Sekte lieferte die radikal zugespitzten Surrogate für das Leben, die der Alltag noch nicht in Gänze durchsetzen konnte, so wurden die Sekten unfreiwillig die Avantgarde für das Leben da draußen. Die wahnhafte Besetzung der Außenwelt mit Sinn und die Gemeinschaftsideologie hatten seit Jonestown und der Manson-Family eine große Zukunft vor sich. Die Gemeinschaft solcher Sekten waren die realen Sozialparadiese, von denen die Politikberater träumten: in ihnen ist ein Jeder dem Anderen Pflegefall und Sozialarbeiter zugleich. Die Antwort auf die Zunahme der überflüssigen Bevölkerung nach der Deindustrialisierung und Robotisierung der Arbeitswelt wurde bei den Sekten schon in Gänze für die Sozialplaner des Spätkapitalismus‘ vorformuliert, indem die depravierten Massen in der Gruppe als degradierte Bedürfnisbündel künstlich am Leben gehalten wurden und als Dauerpflegefälle in den Dienst von beliebigen Sektenziele zu infantilen Opfern des charismatischen Führers wurden, dem sie bedingungslos folgten, auch in den Tod. Die äußerste Konsequenz des Sozialstaates, sollte die Sozialkassen irgendwann überlastet sein, wurde in Jonestown, dem Sozialparadies schlechthin, bereits vorweggenommen: der angeordnete kollektive Massenmord.
Das Individuum ist ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, schrieb Marx irgendwo, weil sich solche aber im ständigen Fluss befinden, geht das Individuum nie in einem historisch-spezifischen gesellschaftlichen Verhältnis vollkommen auf, ist nie mit ihm identisch, ist seine Triebstruktur nicht vollends auf die Bedürfnisse des Apparates gestellt. Ebenso kann er die ideologischen Versprechungen und Legitimationen gesellschaftlicher Formationen und ihres politischen Apparates beim Wort nehmen. Selbst wenn die Menschen nur den Kapitalismus in ihrem Alltag kennen, so sind Gedächtnis, Tradition, Geschichte, Philosophie und Ideologie präsent und Formen einen Gegensatz, etwas Disparates, welche die Individuation beeinflussen kann, womöglich durch den Hass auf die Verhältnisse. Wenn aber das Kapital, wie es im Spätkapitalismus der Fall ist, bereits alle Verhältnisse, Gegenstände, Individuen nach seinen Bedürfnissen umgewälzt und neu hervorgebracht hat und sich verewigt hat als das Ende der Geschichte, dann wird auch die Disparatheit der Individuation verschwinden. Nicht weil es keine Geschichte, Philosophie oder Kritik mehr gibt, sondern weil sie alle angepasst werden zu Funktionen des Apparates, jeder Einwand, jede Kritik, jede Abweichung ist dem Kapital nicht nur nicht abträglich, sondern geradezu nützlich, wie bspw. die Weltkriege, die Oktoberrevolution, die 68er Studentenrevolte bewiesen haben, auch die Ideologien und Vorstellungen über die eigenen Lebensbedingungen und -verhältnisse sind entweder verschwunden oder zu Reklame geworden. Seitdem die Durchsetzung des Kapitals endgültig geworden ist, die Welt aus der Konservendose entstammt und die letzten Reste der Zirkulationssphäre verschwunden sind, hat eine Rückbildung stattgefunden. Die alte vorkapitalistische Welt vermittlungsloser Macht kehrt zurück, nur schlimmer, d.h. mit der Vernichtungsmacht von tausenden Atombomben, dazu hat sie ihr Gedächtnis verloren, d.h. sie steht ohne Tradition, Kultur und Erinnerung da, und was das Schlimmste ist, sie ist ohne Utopie und Hoffnung, dass es besser werden könnte. Die List der Vernunft muss im Spätkapitalismus vor der puren Macht der Aneignung gesellschaftlichen Reichtums und des flottierenden Wahns kapitulieren. Es ist die durchkapitalisierte Welt der unvermittelten Macht, in der das eigentliche Kapital, der Produktionsapparat, in Regie genommen wird von Staaten, Trusts, Oligarchen, Regimen, Banden und Cliquen, die mittlerweile nur noch durch ihre Größe und Macht ernsthaft voneinander zu unterscheiden sind, nicht von ihrer Legitimation.
Die Avantgarde dieser Entwicklung waren einst die verspäteten Nationen, in denen der Kapitalismus ein Projekt der herrschenden Elite war, der im Kampf um die Ausbeutung der Welt verordnet wurde, um den Produktivitätsrückstand - Voraussetzung jeder modernen Kriegsmaschinerie - auf die bürgerlichen Staaten zu verringern. Dieser Kapitalismus war bereits ein anderer, er war ein Instrument, welches nicht mehr auf die humanistische Intention der bürgerlichen Welt (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) Rücksicht nehmen musste.
Don Juan war der charakterliche Prototyp des Frühkapitalisten, eine Übergangsfigur, die die Metamorphose des alten herrschenden Standes zur neuen herrschenden Klasse symbolisierte, er verkörperte die Anpassung vom privilegierten Genussmenschen des Adels zur Charaktermaske der kapitalistischen Produktion. Er war ein Individuum mit patriarchaler Stärke und berechnender Rücksichtslosigkeit, welches aber schon die Genussfähigkeit verloren hatte, die der Verlust von Geist und Seele mit sich brachte.
Die Individuen des Spätkapitalismus sind mit ihrem Prototyp, Don Juan, aber bereits kaum noch in Verbindung zu bringen, symbolisierte er doch immerhin noch das Klassenverhältnis und verlor seine Genussfähigkeit, Geist und Seele durch Anpassung an die Charakterform des ängstlich berechnenden Unternehmers. Seine Position war aber immer noch eine der Stärke. Die Menschen des Spätkapitalismus sind hingegen durch und durch schwach vor dem Apparat, sie sind nur noch geduldete Esser, ihre Position ist nicht die des patriarchalen Unternehmers, sondern eine der Gnade; wenn sie Glück haben, die des untergebenen Angestellten, wenn sie Pech haben, die des Jobcenter-Kunden. Proletariat und Kapitalisten verschmolzen zur atomisierten Masse des verselbständigten Produktionsapparates, den Angestellten. In den Ursprungsländern des Kapitalismus, in denen dieser zur zweiten Natur geworden ist, hat das Bewusstsein über die historisch-spezifische Gesellschaftsform zu einer verinnerlichen Ideologie und Haltung geführt, die das Leben als Glücksspiel auffasst, worin es ganz natürlich Verlierer und Gewinner geben muss, die ironische Fatalität über dieses absurde Schicksal ist als vorherrschender Humor dabei sprichwörtlich geworden. In den Ländern des nachholenden Kapitalismus stellte sich die Situation ganz anders da, hier glaubte man, dass es einem “das System” etwas schulde, wenn es schon nicht erkämpft, sondern verordnet wurde und beim Börsenkrach von 1929 nur Verlierer hinterließ. Hier beschwerte man sich über das Spiel, obwohl man, den Sieg erwartend, mitspielte und hinterher verlor. Man bezichtige die Gegner des Betruges, witterte geheime Mächte und Absprachen, letztendlich konnte nur ein Eroberungskrieg “Händler gegen Helden” (Werner Sombart) das Blatt wenden. Prototyp des neuen Zeitalters waren Menschen wie Rudolf Höß, Leiter des Vernichtungslagers Auschwitz.
Das lebendig gewordene Stelleninserat
Die Inkarnation des Individuums des zwangsverordneten Kapitalismus der verspäteten Nation und damit Prototypen des Spätkapitalismus‘ waren Figuren wie Rudolf Höß oder Adolf Eichmann, schwache und gefährliche Figuren, sterile und kulturbürgerlich gebildete Beamte der Vernichtung, vorbildliche und moralisch einwandfreie Organisatoren der Konzentrationslager, „Narzissten ohne Selbst“, Opportunisten ohne Gewissen, die auch im Gefängnis glücklich wurden und immer dazu lernten, wie Höß in seiner Autobiographie es selbst versicherte. Ihre Triebstruktur hatte den Charakter eines „robusten Magens“, das Verdrängen ihrer verbliebenen Triebe, die Verwehrung des Glücksversprechen des Kapitals bekämpften sie an anderen; die antisemitischen und rassistischsten Wahnideologien, die die Wissenschaft jener Zeit ausbrütete, waren ihre Legitimation zur Vernichtung. Wie Don Juan den Vorteil der Grabesperspektive entdeckte, um die Welt der spätkapitalistischen Gesellschaft zu begreifen zu versuchen, d.h. in ihr Erfolg zu haben, wie er die Seele und die Materie in einen Schmelztiegel warf und nichts vorteilhaftes darin fand, so spuckte die neue Welt Individuen aus, bei denen Psyche und Triebstruktur zur nivellierten und abgeschliffenen, zur gleichförmigen Sparversion des Inhalts der Begriffe wurde, die einst etwas bezeichneten und heute nur noch historischen Wert besitzen oder Signalwörter des Bildungsbürgertum geworden sind. Diese Fabrikware des Apparates versuchte sich, in einem ganzen Heer von gleichförmigen Konkurrenten, die befreit von Skrupel und moralischen Mindestgrenzen, dafür aufgebläht mit dem kulturellen Glanz des Bildungsbürgertums, durchzusetzen, um die besten Stellen des Arbeitsmarktes zu besetzen. Besonders lohnenswerte Stellen gab es im NS-Apparat in den Lagern der Menschenvernichtung, hier konnten die Hößs und Eichmanns sich selbst verwirklichen, sich weiterbilden und als leitende Angestellte Führungsstärke entwickeln.
In der Autobiographie des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, kommen die Illusion, dass der Abgrund zwischen gesellschaftlicher Objektivität und individueller Existenz durch einen persönlichen Verdienst verbunden werden kann, zusammen mit der perfiden Realitätsverdrehung eines Menschen, der vollständig das synthetische Produkt der Kulturindustrie, des auftrumpfenden Deutschtums und des unterwürfigen Opportunistengeistes der angestellten Lohnarbeitswelt ist. Für den Faschismus brauchte es für solche Individuen keine große Anpassungsleistung, im Gegenteil, sie konnten sich endlich hemmungslos und frei entfalten. Wenn man es dennoch nicht bis nach ganz nach oben schaffte, konnte man aus diesem Umstand im Nachhinein immerhin noch einen Widerstand gegen die Naziherrschaft konstruieren. Hans Filbinger ist hierfür das Paradebeispiel, seine Beharrlichkeit sich jedem gesellschaftlichen Umfeld anzupassen und aufzusteigen, einerlei ob sich dieses das Ziel der Vernichtung der Juden oder das des Exportweltmeister gestellt hat, zeigt den unbedingten und eisernen Willen etwas zu sein, und fand mit dem Posten des Ministerpräsidenten auch ein happy end. (Siehe Pohrt 1984, S. 62) Ganz nach oben bei den Nazis schaffte es bereits Höß, kein fanatischer Nazi, sondern einer wie du und ich, ein jemand, d.h. ein niemand, wie alle, ein ganz normaler aufgeblasener Alltagsmensch, der einem jeden Tag begegnen könnte. Pohrt fasst zusammen:
„Höß ist lebendig gewordener Kulturmüll, ein Konglomerat aus Sonntagsblättern und Bildungsromanen aus dritter Hand, aus Amateurpsychologie und Kleingruppenforschung, aus Stelleninseraten und Familienanzeigen, aus Oberstufen-Goethe und Sozialreform, Innerlichkeit und Erbaulichkeit, musikalischer Feierstunde, guten Büchern und Sozialwissenschaft.” (Pohrt 1981, S. 105)
Jemand, der keine klare Vorstellung von seinen Wünschen, Zielen und Begierden im Leben hat, eine Seele wie ein Loch, sein Lebensziele werden ihm von außen angetragen: vorankommen, anständig bleiben, Bildung und Kunst hochschätzen. Sein entqualifizierter Bildungs- und Erfahrungsbegriff wirft immer Rendite ab: er lernt im Gefängnis ebenso dazu wie im KZ oder der Schule. Er kann allem etwas Positives abgewinnen, will sich immer verbessern, findet überall Anschluss. (Ebd.) Es täuscht nicht, wer bei dieser Beschreibung den Klang der Reklame und den Ton der Ansprachen des heutigen Bundespräsidenten heraushört, die Pohrt aus Höß Autobiographie zusammenfasst, und das Ideal des heutigen Menschen erkennt, liegt nicht ganz falsch, kurzum: “Höß ist das lebendig gewordene Stelleninserat. (Ebd., S. 98)“. Die Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse sind durch und durch Produkte der Kulturindustrie: lebenslanges Lernen, etwas Erleben, proaktiv sein und eine positive Einstellung haben, darauf kommt es auch heute noch mehr als früher an.
“Nach ihm (Höß) brauchen die Menschen weder ein anderes Selbst noch eine andere Welt, sie brauchen ein anderes Selbstbewusstsein, mit diesem werden sie überall glücklich, auch im Gefängnis.” (Ebd.)
Er kann sich an jede Situation anpassen, will immer dazulernen und sich verbessern. Sein Narzissmus bezog sich wie bei so vielen Nazis auf etwas, wo man nicht nachgucken konnte: auf das Blut und die Seele. Dieser Bezug ist aber bereits nicht mehr als verzweifelter Versuch der Rettung des Ichs zu missverstehen, sondern als dessen Phantomschmerz, um die Behauptung des Ichs in der Welt zu rechtfertigen, die eigentlich keinen Sinn mehr macht, jenseits des Überlebens. Wo das Ich verschwunden war, Es und Überich zusammenfielen, führte die Zivilisation zurück zum Irrationalismus in Zeiten des stetig steigenden Produktionsrationalismus. Die Barbarei lebte so nicht in der Zivilisation weiter, sondern umgekehrt: die Zivilisation lebte in der Barbarei weiter, zumindest in Deutschland. Das Blut sollte die Massen verbinden, die sich im alltäglichen Konkurrenzkampf ansonsten gegenseitig die Pest an den Hals wünschten. Die Seele sollte die eigene Superiorität des Blutes verbürgen, indem sich Kultur und Moral einer langen Kulturgeschichte niedergeschlagen haben sollen. Rein logisch müsste sich danach das deutsche Volk, abgesichert durch die Metaphysik des Blutes, automatisch gegen andere Völker, jetzt zu Nationen nobilitiert, durchsetzen, aber wie der Calvinist braucht die Erwähltheit einen Kampf und einen irdischen Beweis, den Endsieg in einem heroischen Krieg. Weder war der Krieg heroisch, noch glaubten die Deutschen mehrheitlich an ihre natürliche Überlegenheit, auch wenn sie ihnen schmeichelte, die Propaganda war eine irrsinnige Show, der Irrationalität einen rationalen Anstrich zu geben, der in seiner Hässlichkeit typisch deutsch war.
Wenn die Vernunft am Gegenstand scheitert
Was die Ziele des Naziregimes waren, bis auf die eines banalen Raubzuges, dessen Konsequenzen nicht durchdacht waren, und vielleicht durch den Glauben an die eigene Lüge der Überlegenheit getragen waren, darüber haben sich unzählige Historiker und Politiker den Kopf zerbrochen. So zahlreich diese Versuche auch waren, so zahlreich waren auch die Sinnstiftungen für diese Verbrechen, die jeglicher Rationalität Hohn sprachen. Das Offensichtliche aber, dass eine Sache nicht begriffen werden kann, weil sie sich begrifflicher Rationalität, der Vernunft, entzieht, die der Verstand in dieselbe legen muss, um sie zu fassen, aber gleichzeitig diese Sache nicht komplett durch sich selbst ersetzten kann, wie es diese Wissenschaftler immer wieder getan haben und tun werden, hat Pohrt auf den Punkt gebracht:
Das Unbegreifliche ist am deutschen Faschismus aber gerade das Wesentliche. Ihn zeichnet aus, daß er von keiner Theorie mehr wirklich erreicht werden kann. Nicht einmal die Konstruktion eines strafenden Gottes – das erste Tasten wie der letzte Ausweg der Vernunft – vermag die planmäßige, fabrikmäßige Vernichtung von mindestens 6 Millionen in jenen sinnvollen Zusammenhang zu stellen, in dem der Gegenstand allein erkannt werden kann. Die Theorie setzt einerseits stets ein die Sache unter seine eigenen, subjektiven Bestimmungen setzendes Subjekt voraus. Sie beginnt also erst jenseits der Konzentrationslager, in denen das Subjekt planmäßig vernichtet wird. Die Theorie setzt andererseits eine Sache voraus, die von den Denkbestimmungen eines auf sie reflektierenden menschlichen Subjekts nicht völlig verschieden ist: was real keiner menschlichen Logik gehorcht, kann auch kein Mensch begreifen. Von einer Institution, in welcher die Unmenschlichkeit zum Prinzip erhoben ist, muß die Theorie daher kapitulieren. (Pohrt 1981, S. 66 ff.)
Pohrt führt einige dieser Theorieversuche von verschiedenen Historikern und Sozialwissenschaftlern an, stellt bei diesen aber fest, dass sie vor dem Was und vor dem Wozu zurückweichen und meisten vom Wie sprechen, sodass man hernach weiß, wie man KZs betreibt, aber nichts darüber, was die Vernichtung erklären könnte. Pohrt fällt dabei auf, dass allen Darstellungen über das Lagerleben gemein ist, dass sie einen Alltag beschreiben, der von dem außerhalb der Lager kaum zu unterscheiden sei, das Lagerleben erschien bestürzend alltäglich und gewöhnlich. Einerseits wurde durch die Analyse der Beschreibung das Unbegreifliche scheinbar begreiflich und gewöhnlich, was die Wissenschaftler beruhigte. Andererseits, und das sei die Pointe, war
diese lähmende, abstumpfende Alltäglichkeit des unbegreiflichen Verbrechens tatsächlich nationalsozialistische Realität […], und gerade dies macht gerade die Differenz dieser planmäßigen Menschenvernichtung zu all den Untaten aus, die in der Geschichte immer wieder begangen worden sind.“ (Ebd.)
Der Unterschied zwischen Alltag und Barbarei war komplett eingeebnet. In diesem Umfeld war ein Rudolf Höß, höflich und gebildet, stets ein Vorbild an Fleiß und Kameradschaft. Im Wahn der Menschenvernichtung setzte sich die planmäßige und organisatorische Rationalität fort, ausgeführt von Durchschnittsmenschen.
Die barbarische und wahnhafte Regression bezieht genau aus dem Fortschritt der Produktivkräfte - Inbegriff von Zivilisation – ihre apokalyptische Macht. […] Erst der Wahn, auf den eine hochkapitalisierte Gesellschaft regrediert, kann 6 Millionen Menschen planmäßig und weitere 44 außerplanmäßig vernichten.
Bei alledem waren die Untaten des Nationalsozialismus nicht wie die vorfaschistischen zumindest aus dem Herr- und Knechtverhältnis erklärbar. Solche könne man immerhin noch
erklären, wenn man die ihrerseits unbegreifliche, schlicht vorgegebene Prämisse akzeptiert, daß die fortschreitende Emanzipation schleppend und stolpernd durch ein Meer von Blut, Schweiß und Tränen waten muß. Die NS-Verbrechen hingegen beginnen an dem Punkt der Geschichte, wo die Befangenheit der Menschen in Natur materiell aufgehört hat: wo die Produktionskräfte so weit entwickelt sind, daß alle glücklich leben könnten, ohne daß einer den anderen zu diesem Zweck erniedrigen, unterdrücken, ausbeuten oder gar abschlachten muß. So ist der Faschismus gerade kein auf der Menschheit lastendes Verhängnis, kein unabwendbares Schicksal wie die historische Arbeit, die stets ihre Opfer gefordert hat. (Ebd.)
Der Naturzwang, die Natur bearbeiten zu müssen, um leben zu können und der egoistische, aber immerhin verständliche Wunsch andere Menschen dazu zu zwingen, um auch gut leben zu können, kann der deutsche Faschismus gerade nicht als Begründung seiner Taten anführen. 6 Millionen Menschen in Todesfabriken verschwinden zu lassen, ist aus ökonomischen Gründen geradezu irrsinnig, wenn sich diese Menschen ebenso für die Bearbeitung der Böden der riesigen eroberten Ostgebiete angeboten hätten.
Die Opfer des Nationalsozialismus zählen nicht zu jenen in der Geschichte, die ebenso notwendig, wie niemals zu rechtfertigen sind. Trauervolles Eingedenken allein ist ihnen gegenüber fehl am Platz. Sie sind nicht der furchtbare, aber offenbar unvermeidliche gewesene Preis des Fortschritts, nicht vergleichbar den maltraitierten Sklaven, die man beim Betrachten der großartigen Dinge, die sie schufen, nie ganz vergessen sollte. Die Opfer des deutschen Faschismus sind gleich auf doppelte Weise erledigt: sie sind nicht einmal Opfer. […] Der Faschismus war nichts als Menschenwerk, dies offenbart sich noch in der jeglicher Dämonie spottenden „Banalität des Bösen“. Er kann sich real auf keine höhere Gewalt berufen. Damit aber schlägt jede gesellschaftstheoretische Kritik des Faschismus, die wie gezeigt wurde, ohne Konstruktion höherer Gewalt nicht existieren kann, in Affirmation um, in reine Rechtfertigung dessen, was um keinen Preis zu rechtfertigen ist. Die Theorie sucht stets nach Gründen. Für die planmäßige Vernichtung von 6 Millionen Menschen, die noch nicht einmal zum Vorteil irgendeines anderen einfach nur vernichtet wurden, gibt es aber keine Gründe. Und jeder Versuch, sie dennoch zu konstruieren, muß zurückgewiesen werden. (Ebd., S.69 f.)
Dass die Welt nach Auschwitz nicht mehr dieselbe ist, ist eine Lüge, sie hat nur die Unschuld des Unwissens verloren. Die postapokalyptische Welt des Spätkapitalismus jedenfalls hat einen neuen Menschen, ganz nach ihren Anforderungen geschaffen, der das Leben, nach einem Wort von Balzac, nur noch aus Rache an der eigenen Verzweiflung lebt, dass es egal ist, ob er lebt oder nicht, und alsbald die Gründe für diese Rache schon wieder vergessen hat. Der postapokalyptische Prototyp ist der atomisierte Autist, der Nerd.