Kevin Kühnert bei der Arbeit (Bild: ARD-Mediathek)

Ob die Kühnert-Doku des NDR zu dem Zweck gedreht wurde, auch dem letzten Jugendlichen das politische Engagement in einer Partei auszureden? Wahrscheinlich nicht, aber die Wirkung ist verheerend. Kühnert, Augenränder und Dreitagebart, stapft in der über drei Jahre angelegten Doku in sechs Folgen kaffeeschlürfend, kettenrauchend und wie ferngesteuert durch die menschenfeindliche Bürolandschaften der SPD-Zentrale von einer nervtötenden Sitzung voller graugesichtiger Gestalten zur nächsten. Mit seinen 30 Jahren ist er bereits ein abgehärteter Einzelkämpfer, der sich inmitten einer lebens- und denkfeindlichen Umwelt seinen Weg an die Spitze einer altersschwachen und müden Organisation bahnen möchte, die seit über 150 Jahren, stets sich an die herrschenden Verhältnisse anpassend, existiert. Rauchend und eckenstehend muss er den debilen Smalltalk seiner Genossen ertragen, ebenso wie die Schlurfigkeit seiner Büro-Zuarbeiter, die Schwierigkeiten haben, mit ihrem um Professionalität bemühten Kommunikationssprech ganze Sätze zu formulieren. Dazu kommt die qualvolle Ochsentour quer durch die Republik von einer Wahlveranstaltung zur nächsten Podiumsrede, auf denen er die Genossen mit den ewig gleichbleibenden Plattitüden und Slogans versorgen muss, die diese brav beklatschen. Dazwischen: nervenaufreibende Interviews und Meinungsschlachten bei Illner, Will und Co.

Von der Ochsentour zur unablässigen Rache an der eigenen Existenz

Die Ochsentour vom Juso-Vorsitzenden zum Bundestagsabgeordneten oder zukünftigen Parteivorsitzenden, Generalsekretär etc. ist ein Martyrium ersten Grades, um das man Kühnert in keiner Weise beneiden kann. Bewundernswert ist, zumindest für religiöse Menschen, seine Selbstaufgabe sich beflissen im Hamsterrad des grenzdebilen SPD-Mikrokosmos‘ bis an die Kotzgrenze zu drehen; seine geschäftige Verschlossenheit, die simulierte Militanz und seine grenzenlos geduldig aufgesetzte bescheidene Jovialität, die es in Sachen kommunikativen Stoizismus und Einfallslosigkeit mit Gandhi oder Mutter Teresa aufnehmen könnte. Es gibt keinen Wutausbruch, keine Tränen, kein Bereuen über die verschwendete Lebenszeit, kein erkennbares Widerstreben, er erträgt den Stumpfsinn um sich herum mit einem Gleichmut, die an die des Dalai Lama inmitten tausender klappernder Gebetsmühlen erinnert. Man leidet als Zuseher wirklich mit und bezweifelt stark, ob es sich wirklich für Kühnert lohnt, insbesondere wenn man die Geschichte der SPD und ihrer verkrachten Existenzen kennt. Normalerweise ist man zu solchen Willensanstrengung, wie Kühnert sie vollbringt, nur fähig, wenn man ein ganz großes Ziel vor Augen hat, und er gibt vor dieses zu haben: Die SPD erneuern, indem er sie wieder nach links führt. Das ist der altersschwache Esel, den er reitet, das viel und schon zu oft bemühte Instrument in der Parteigeschichte, um seine Karriere voranzutreiben. Keineswegs originell, aber immerhin nachvollziehbar, nach dem die Partei, statt sozialer Gerechtigkeit, Hartz IV einführte und statt Friedenspartei zu sein, den Balkan bombardieren ließ. Erneuerung soll also heißen, zurück zu den Wurzeln der Partei, zurück zum Unding, eine solidarische Gesellschaft innerhalb des Kapitalismus zu etablieren. Flausen, die sich die SPD einst schon selbst, vom Godesberger Programm bis zu Schröder, ausgetrieben hatte, die aber nie ganz verschwanden, weil sie ein Alleinstellungsmerkmal waren, welches sich jederzeit für Aufsteiger wie Kühnert zu einem Aufbruch ins Niemandsland instrumentalisieren lassen können. Die Quadratur des Kreises, an der sich die SPD seit 150 Jahren die Zähne ausbeißt, führt aber schon lange nicht mehr zu den berühmten Selbstzweifeln, die sie noch bis in die 1980er stets begleiteten, denn im Zeitalter der Identität, reicht es aus, wenn dabei ein diffuses Gefühl herauskommt, links zu sein, und dafür steht die moderne SPD, dafür steht Kühnert, dafür wird er gefeiert. Denn das kommt dabei raus, wenn man die Genossen mit der alten Klassenkampfgeschichte veralbert, in der die SPD auf der richtigen Seite steht und die CDU natürlich nicht.

Die Ironie der Geschichte ist, dass die Doku am Ende zeigt, wie Kühnert es in den Bundestag schafft, gleichzeitig aber Olaf Scholz, Agenda 2010-Mitorganisator, zum neuen Bundeskanzler gewählt wird. Dieser gewinnt sozusagen den Merkel-Ähnlichkeitskontest: „Nach Mutti kommt Vati“, wie die BZ richtig titelte, mit der SPD hat der Wahlsieg an sich nicht zu tun, ohne Scholz und das Versprechen, die Wähler nicht in ihrer Grabesruhe mit Politik zu belästigen, wäre das Wahlergebnis wohl einstellig geworden. Das Gefühl links zu sein, ist dann für die Genossen gratis und ein schöner Trost. Nach einem Wort von Balzac, welches treffender für die SPD nicht formuliert hätte werden können: Je sinnloser die Existenz dieser Partei hinsichtlich ihrer ursprünglichen Ziele, desto mehr hängt sie an ihr; Partei zu bleiben, anstatt sich aufzulösen, bedeutet für sie dann einen unaufhörlichen Protest, eine unablässige Rache.

Macht ihr es, Saskia und Norbert!

Der peinlichste Moment der Kühnert-Doku, den die FAZ sofort aufgespürt hat, spielt sich in Folge vier ab.

Kühnert, Esken und Walter-Borjans sitzen in einem schmucklosen, beige-grauen Konferenzraum, der gängigsten Kulisse in der deutschen Politik. Kühnert bereitet die beiden auf ihren Auftritt gegen Olaf Scholz vor, sie wollen Parteivorsitzende werden. Kühnert: ‚Ihr habt Lust drauf.‘ Esken macht sich mit ernster Miene Notizen. ‚Ihr habt Lust, Lust, Lust.‘ Walter-Borjans guckt skeptisch. Kühnert weiß, wie es läuft. Sein Stern strahlt auch deswegen so hell, weil das meiste um ihn herum ziemlich düster ist. Die Szene dokumentiert eine Demütigung, man kann es nicht anders sagen. (FAZ, vom 19.10.2021)[1]

Die Demütigung findet aber nicht nur gegenüber Eskens und Walter-Borjans‘ durch Kühnert statt, dadurch, dass ein 30jähriger Aufsteiger zwei älteren Genossen zum Parteivorsitz motivieren muss und ihnen erzählt, wie sie sich bei der Stichwahl dazu zu verhalten haben. Eine viel größere Demütigung findet gegenüber dem Amt des Parteivorsitzes Europas geschichtsträchtigster Partei statt, welches einst dazu berechtigte, die Parteipolitik zu bestimmen. Schon Müntefering hatte vor einigen Jahren diesen Posten bereits ironisch verächtlich gemacht, indem er ihn als „schönstes Amt neben dem Papst“ verhöhnte. Die größere Demütigung besteht also darin, dass die Besetzung des Parteivorsitzes zur lästigen Pflicht für die Parteisoldaten Kühnerts wird und für ihn selbst nur ein Puzzleteil auf seinem Karriereweg darstellt. Dementsprechend wirken jene unmotiviert und für Kühnert selbst ist es nicht mehr als eine lästige Pflicht auf dem Weg nach oben. Alle sind sich dessen bewusst und entsprechend kurios mutet ihr Gespräch an:

Kühnert fragt: „Was sind die Hauptbotschaften heute Abend?“ Walter-Borjans antwortet ernsthaft: „Wir wollen Vorsitzende werden.“ Eskens hingegen hat die Lage genau erkannt: „Wir strahlen aus, dass wir uns ein bisschen bewerben, aber nicht wirklich wollen.“ Kühnert hakt da ein: „Lasst uns mal da anfangen, also mit Fröhlichkeit, wir haben richtig Lust drauf, einfach, freuen uns, es ist keine lästige Pflicht.“ Niemals würde jemand der Parteivorsitzender in Deutschlands größter politischer Partei werden möchte oder seine Unterstützer zur Sprache bringen, dass die Bewerbung für dieses Amt für sie eine lästige Pflicht sei, außer es ist tatsächlich eine. Kühnert muss es also allen nochmals versichern: „Für euch ist es keine lästige Pflicht, sondern eine Leidenschaft, sich darum zu bewerben, weil ihr es nicht ertragt, wie z.B. in der Öffentlichkeit mit der SPD umgegangen wird.“ Das Argument wirkt beliebig, weil der Parteivorsitzende nur wenig Einfluss darauf hat, wie die Presse mit der Partei umspringt. Als Walter-Borjans vorbringt, dass er Angst hätte, dass ein möglicher Sieg über Scholz in der Stichwahl zum Parteivorsitzenden diesen als Kanzlerkandidaten beschädigen könnte, muss Kühnert mit dem albernen Satz beschwichtigen: „Unsere SPD arbeitet nicht mit Angst.“ Das sieht Walter-Borjans ein. Kühnert geht jetzt zum Motivationsspektakel über: „Ihr habt Lust…“ fasst sich an die Mundwinkel, um sie zu einem Fake-Lächeln nach oben zu ziehen „Lust, Lust, Lust“, um dann naseweis seinen älteren Genossen auf dem Weg zu geben: „Spielt diesen Vorteil gegenüber anderen bitte aus, ihr wollt es besser machen.“ Dann geht er aus dem Raum: „Pffthh, so.“

Einen Vorteil also, den sie gar nicht haben, ihre Gegner um Scholz allerdings auch nicht, und der erst durch die Wiederholungen „Ihr habt Lust, Lust, Lust“ beschworen werden muss, denn genau genommen hat niemand Lust, für alle ist es eine lästige Pflicht, die nur Kühnert im Falle eines Sieges wirklich hilft. Inhaltlich wird folgerichtig in diesem Gespräch überhaupt nichts angesprochen, denn eigentlich müsste sich über diese Ebene die Motivation aufbauen. Aber nichts da, man ist sich irgendwie einig, und die beiden älteren Genossen werden Kühnert den Gefallen tun, für ihn zu kandidieren. Eskens und Walter-Borjans einzige Qualifikation ist es, wie Kühnert selbst, die SPD weiter links aufstellen zu wollen. Wer sie wählt, wählt Kühnert. Dieser ist nämlich schlau genug, die beiden für den Parteivorsitz vorzuschieben und damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Nämlich das Haifischbecken des Vorsitzes zu meiden, welches gerade in letzter Zeit schon viele Karrieren beendet hat, bevor sie richtig anfingen - man denke nur an Andrea Nahles -, und sie zwei unbekannten Gestalten zuzuschustern, die eher den Ruhestand als die politische Karriere im Kopf haben. Zugleich soll der Linkswandel unter Eskens und Walter-Borjans‘ der SPD seine eigene Karriere den Weg ebnen. Das gelang auch zunächst, als er nach deren Wahl sofort stellvertretender Parteivorsitzender wurde. Dass nun ausgerechnet das unwahrscheinlichste Szenario eintrat, die SPD also bei der Bundestagswahl die meisten Stimmen bekam und Scholz, einer der Hartz IV-Wegbereiter, neuer Bundeskanzler wurde, anstatt abzuschmieren, machte Kühnert zunächst einen Strich durch die Rechnung. Denn in einer Regierung mit Olaf Scholz als Bundeskanzler wird die SPD dieselbe Politik weiterführen wie Merkel zuvor für die CDU, dafür wurde Scholz schließlich gewählt. Allerdings werden die neuen Koalitionspartner Druck Richtung Modernisierung des Landes machen, um die Position der BRD im „klimaneutralen“ Konkurrenzkampf der Staaten zu stärken. Die von der SPD im Wahlkampf versprochene soziale Gerechtigkeit wird bis auf die Namensänderung von Hartz IV und kleinen kosmetischen Änderungen dabei zurückstehen müssen, das ist jetzt schon absehbar. Aber die SPD hatte nie Probleme, zu regieren und gleichzeitig die Opposition zu spielen, deren Vorsitz nun wohl Kühnert übernehmen wird.

Um was es Kühnert wirklich geht, ist das Rätsel, das die ganze Doku über begleitet. Ist es sein Herzenswunsch, mit dem „Sozial“ im Namen der SPD ernst zu machen und traut er es niemand anderem innerhalb der Partei als sich selbst zu, diesen Weg einzuschlagen, oder ist die Linkswende das Instrument für seine Karriere? Wahrscheinlich weiß Kühnert das selbst nicht so genau und er glaubt an seinen Auftrag, die SPD zu erneuern, indem er ihre alten Ziele wieder reaktivieren möchte. An den Handlungen allerdings, die eine Entscheidung zugunsten eines dieser Szenarien erfordert, ist die Motivation ablesbar. Daran mangelt es in der Doku nicht. Kühnerts Verständnis, was es bedeutet links zu sein, ist dafür der beste Indikator.

Was es heißt, links zu sein

Bekannt wurde Kühnert 2017 als er als Juso-Vorsitzender die Anti-GroKo-Bewegung innerhalb der SPD anführte. Die große Koalition bescherte der SPD einige Ministerposten, ließ sie als Juniorpartner der CDU aber zusehends verzwergen und war für die Wähler kaum noch von der Merkel-CDU zu unterscheiden. Wenn sie links wählen wollten, wählten sie Die Linke, die es ihnen einfach machte, weil sie schon so hieß. Raus aus der GroKo hieße für die SPD also die Aufgabe von Macht zugunsten einer Profilschärfung. Nur welches Profil, das war die Frage, die Kühnert mit einem linksgefühlten Profil beantwortete.

Dazu, und um sich weiter im Land bekannt zu machen, gab der damalige Juso-Vorsitzende der Zeit ein Interview, in dem er sich für die demokratisch legitimierte Kollektivierung von Großunternehmen und die Beschränkung von Immobilienbesitz aussprach. Anstatt privatisierter Wasserwerke, Lebensmittelhersteller oder Kommunikationsunternehmen führte Kühnert BMW als Beispiel an, ein Unternehmen für welches die Menschen in einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft sicherlich keine Lebenszeit als notwendige Arbeitszeit verschwenden würden. Das war eine gezielte Provokation der Auto-Nation, um nun wirklich auf jeder Titelseite zu erscheinen. Ein Parteifreund twitterte, ob er was geraucht hätte, andere forderten, ihn aus der Partei zu werfen. Besser begriff es Sigmar Gabriel, der seinesgleichen in Kühnert sofort erkannte und dessen Inszenierung des Zeit-Interviews als eines nach der Methode Trump bezeichnete, die also „nur Kühnerts eigenes Ego und den medialen Effekt kenne“, zum Schaden der Partei. Mit sowas kennt sich Gabriel aus. Immerhin war Kühnert in diesem Interview gezwungen, ansatzweise zu erklären, was er sich unter Links-Sein vorstellt. Sozialismus hieße das Ziel, so Kühnert, welches er in Angriff nehmen wollen würde. Ein geradezu übermenschliches Ziel, müsste man glauben, an dem die SPD immerhin schon seit 150 Jahren scheitert und es darüber auch mindestens genauso lang vergessen hat. Der Trick, der den Deutschen die Revolution erspart, ist: Das Ganze solle demokratisch geschehen, nicht wie in der DDR durch Autorität oktroyiert werden, denn niemand kann natürlich etwas gegen Demokratie haben, selbst die DDR hieß Deutsche Demokratische Republik. Man stelle sich das vor, die BMW-Belegschaft beschließt ihr Demokratieverständnis zu erweitern. Anstatt nur einmal in vier Jahren irgendeine Partei zu wählen, stimmt sie darüber ab, ob sie BMW einfach übernimmt, ungefähr so wie Russland bei seinem Referendum über die Staatszugehörigkeit der Krim. Das wäre eine innovative Erweiterung der Rechtsverhältnisse in der BRD, Eigentum bestimme sich nun darüber, ob eine Mehrheit es sich durch eine Wahl aneigne. Komische Vorstellung, das Land wäre nun von beliebigen Plebisziten an allen Ecken des Landes übersät, um sich Besitz anzueignen. Kühnert weiter: Ohne Kollektivierung sei „eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar.“ Natürlich nicht, denn die Kollektivierung wäre ja bereits Teil der Überwindung, denn der Kapitalismus beruht auf Privatarbeiten und Privatbesitz der Produktionsmittel. Die ganzen Ausführungen sind inhaltlicher Nonsens und nur Mittel, um die Signalwörter „Kollektivierung“, „BMW“ und „Sozialismus“ einzubetten, die wie Gabriel es richtig erkannte, nur den medialen Effekt kennen, um Kühnert im Land bekannt zu machen und die Genossen jenseits des Seeheimer Kreises um sich zu scharen. Am Ende dieser Ausführungen steht dann wieder das alte Lied der Verteilungsgerechtigkeit, wenn es mit dem Sozialismus mal wieder nicht klappen sollte, und da hat die SPD den kleinen Leuten was zu bieten, nämlich ein größeres Stück vom Kuchen:

Am Beispiel des Autobauers führte er weiter aus: ‚Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW 'staatlicher Automobilbetrieb' steht oder 'genossenschaftlicher Automobilbetrieb' oder ob das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht.‘ Entscheidend sei, dass die Verteilung der Profite demokratisch kontrolliert werde. ‚Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebes gibt.‘ (ZDF-Mediathek)[2]

Sozialismus ist für Kühnert also ein Kapitalismus ohne Kapitalisten, indem sich die Arbeiter die Profite demokratisch teilen. Kühnert scheint dabei entgangen zu sein, dass der Kapitalismus schon längst ohne Kapitalisten funktioniert, dass die Konzerne von spezialisierten Arbeitnehmern geführt werden und als Aktienunternehmen vergesellschaftet sind. Der Spätkapitalismus funktioniert ohne den Gegensatz von Kapitalisten und Proletariat, seit dieses zum Juniorpartner der Kapitalisten wurde, und somit die Unterscheidung zwischen beiden obsolet wurde. Über die Vorstellung, dass das Proletariat nur die Kapitalisten enteignen muss, also die mit den dicken Wänsten, Zylinderhüten und Zigarren, damit der Sozialismus erreicht wäre, hat sich schon Marx lustig gemacht, denn der wusste im Gegensatz zur SPD damals und Kühnert heute, dass wenn der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit beseitigt wäre, und alle gleichberechtigt für das Kapital schufteten, dass dann - umgekehrt also - der Kapitalismus und nicht der Sozialismus endgültig gesiegt haben würde.

Genauer betrachtet bedeuten Kühnerts Pläne nur eines, dass nämlich im Prinzip eine Beutegesellschaft durch eine andere, moralischere, ersetzt wird, in der die Aufteilung neu geregelt wird. Dass sich die Menschen im Spätkapitalismus zu denen von ihnen selbst hergestellten Produkten wie eine Bande zur Beute verhalten, ist vor allem das Ergebnis der Versöhnung von Kapital und Proletariat zur Beutegesellschaft, an der die SPD in Deutschland einen maßgeblichen Anteil beigetragen hat. Dazu später mehr. Nach Kühnert also, der die Beutegesellschaft im Prinzip bejaht, sorgt im Kapitalismus das Privateigentum an den Produktionsmitteln dafür, dass die Profite ungerecht verteilt werden, im Sozialismus hingegen verbürgt die Demokratie, dass jeder den gleichen Anteil bekommt. Das ist Kühnerts Konzept der Gesellschaft unter verschiedenen Vorzeichen, und so denkt Frau Meyer und Herr Müller auf der Straße auch. Und wenn Kühnert ihnen ein größeres Stück vom Kuchen verspricht, warum sollten sie ihn dann nicht wählen? 

Die Beutegesellschaft heißt bei der CDU christlich-demokratisch und bei der SPD sozialdemokratisch. Deswegen: „Das womit wir begeistern wollen ist Sozialdemokratie.“ So spricht der Vorsitzende der Juso zu den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei. Die meisten politischen Reden sind voller Banalitäten, aber dass jemand die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei daran erinnert und sie damit motiviert, dass sie Sozialdemokratie machen und damit begeistern wollen, scheint etwas zu viel des Guten. Psychologisch greift hier wieder das Prinzip der Beschwörung, die das atavistische Geheimnis jeglicher Motivationsreden ist, denn zu begeistern ist in der SPD niemand mehr, allerdings ist Kühnert zu seiner Ochsentour angetreten,: „Damit diese Partei wieder ausstrahlt, was sie verdient auszustrahlen.“ Bei dieser Aussage ist Vagheit angebracht, um nicht auszusprechen, worüber alle lachen würden. Denn das, was diese Partei ausstrahlte, war einst das Versprechen einer solidarischen Menschheit, eingeleitet durch die ausgebeutete Arbeiterklasse. Das war die falsche Flagge, unter der sie einst segelte und ziemlich erfolgreich war, und deswegen so Kühnert: „[haben wir] ein Interesse daran, dass hier noch was übrig bleibt von diesem Laden. Verdammt nochmal!“ Der Abglanz alter Zeiten also, und irgendwas mit sozial und links, sollen die Partei erneuern. Blickt man allerdings auf die Geschichte der SPD, dann ist selbst dieser Abglanz, mit dem Kühnert sich schmücken will, Betrug. Der historische Auftrag der SPD, über den Kühnert twitterte, und der jetzt mit ihm anstehe, ist in Wahrheit schon längst erledigt, statt des Kampfes für den Sozialismus war dieser Auftrag nämlich die Versöhnung von Kapital und Arbeiterklasse zur sogenannten Sozialpartnerschaft, damit wurde Deutschland zukunftsfähig gemacht, mit allen Konsequenzen vom Dritten Reich bis zum Euro. Die gütliche Einigung des einstigen Gegensatzes von Kapital und Arbeit, einst Versprechen der revolutionären Aufhebung durch das Proletariat, wurde sozialdemokratisiert zu einer sozialen Partnerschaft, die das Proletariat zum Juniorpartner des Kapitals machte, zum Komplizen in einer Beutegesellschaft, die für ordentliche Profite sorgt, andere Länder durch Lohnzurückhaltung niederkonkurriert und die Dritte Welt ausraubt.

Die SPD, ein Opfer der eigenen Machtansprüche innerhalb der „Fliehkräfte“ der Geschichte?

„Fliehkräfte“ ist eines der meistgebrauchten, für den Politikbetrieb ungewöhnlichen, Begriffe, die Kühnert, Nahles und Co. in der Doku gerne benutzen, um zu beschreiben, dass sie sich in einem Hamsterrad der Politik befinden, in dem derjenige, der sich nicht richtig festhält auf dem Weg in die goldene Mitte auch schnell wieder rausfliegen kann. Niemand kann alles kontrollieren, und manchmal kann niemand etwas für bestimmte Ereignisse, die außerhalb des eigenen Einflusses liegen. Die Fliehkraft, auch Zentrifugalkraft, „ist eine Trägheitskraft, die bei Dreh- und Kreisbewegungen auftritt und radial von der Rotationsachse nach außen gerichtet ist.“ (Wikipedia) Der Weg der SPD von der Arbeiter- zur Volkspartei, von der Idee des Sozialismus, die einst ausgebeuteten Arbeiter ganz logisch erschien und mit der sie von dieser Partei geködert wurden, bis zu den Hartz-Gesetzen, war in ganz besonderer Weise den Fliehkräften der Geschichte unterworfen, gerade weil sie sich ihnen nichts entgegenstellte, indem sie nicht hielt, was sie versprach, nämlich dafür zu sorgen, die Menschheit als solidarisches Subjekt zu konstituierten. Die SPD war nicht nur ein Spielball der Geschichte, weil sie als angeblich sozialistische Avantgarde ebenso scheiterte wie die restliche Menschheit, sondern weil sie sich mit ganz besonderer Verve dem scheinbar Unvermeidlichen andiente. Der sauber organisierte Tigersprung ins Hamsterrad der Vorgeschichte der Menschheit, war für die SPD kein Versuch dessen Achse zu brechen, sondern sich mitzudrehen im Spiel um die politische Macht. Allerdings ging dies zulasten der politischen Glaubwürdigkeit, die sich auf das Versprechen des Sozialismus stützte. Das Abspeisen des Proletariats mit größeren Krümeln des gesellschaftlichen Reichtums und dem Nationalismus als Glaubensersatz war erfolgreich, aber politisches Tagesgeschäft, das andere auch beherrschten. Die Zunahme an politischem Gewicht war mit einer Abnahme an politischem Inhalt erkauft. Dem Gesetz der Trägheit konnte nur durch besondere Angepasstheit an die politischen Verhältnisse ein Schnäppchen geschlagen werden, die SPD wurde so politisch überflüssig. Was die konnten, konnten andere Parteien auch. Dass der Niedergang so schleichend vor sich ging und nicht schlagartig einsetzte, war der Beharrlichkeit ihrer Wähler geschuldet, die ein eigenes Milieu besetzten, nun aber langsam aussterben. Das Gerede vom Sozialismus hatte höchstens noch eine spukhafte Fernwirkung auf Traditionswähler oder Moralaposteln, die Moral als etwas Linkes missverstehen, ansonsten taugt dieses Gerede aber immerhin noch als ein Instrument für den Karriereschub von irgendwelchen Jusos, die alle Jahre wieder dieses als Sprungbrett ausprobieren, wie bspw. Kevin Kühnert. Zum Narrativ dieser Aufsteiger gehört der Begriff „Fliehkräfte“ insbesondere deswegen, weil er insinuieren soll, dass die SPD in den Wirren der Zeit und durch Karrierepolitiker wie Schmidt oder Schröder vom Weg abgekommen sei. Ein Blick auf die Geschichte der SPD zeigt aber, dass das nie der Fall gewesen war, denn ihr Weg war nie der Sozialismus, ihr Weg war der Populismus, den sie heute den Rechten vorwirft, indem sie den Begriff des Sozialismus für ihren Regierungsanspruch in Preußen, dem Deutschen Reich, der BRD und anderen Scheußlichkeiten instrumentalisierte.

Was aus dem Sozialismus entstehen kann, wenn aus ihm nichts wird

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. gründeten sich die Vorgängerorganisationen der heutigen SPD aus sozialen Bewegungen, die von den Interessen der Arbeiter und Handwerkern bestimmt war. Schwierig war von Anfang an die Bestimmung des Begriffs „Sozialismus“, der ja als Ziel galt, denn alle sozialdemokratischen Vorgängerversionen und schließlich auch die SPD selbst waren durch und durch national gesonnen, und alle Interessen wurden in Forderungen von Rechten, bspw. das allgemeine Wahlrecht, an die jeweilige Staatsgewalt gerichtet, welche den politischen Rahmen definierte. Die Voraussetzung des Sozialismus, nämlich seine Internationalität, oder vielmehr Transnationalität verkam zur Folklore, bspw. im Singen der Internationale. Konnte die Widersprüchlichkeit des Handelns mit dem aufgebauten Selbstbild noch zu Verwirrung bei einigen Genossen geführt haben, so wussten die Gegner der Sozialdemokratie sofort, mit was sie es zu tun hatten. Nämlich nicht mit einer revolutionären Vereinigung, sondern mit einem politischen Gegner. Bismarcks Sozialistengesetz verhinderte nicht den Umsturz, sondern eben diesen politischen Gegner, der potentiell über eine viel größere Wählerschaft verfügte als die Konservativen.

Geführt wurde die Vorgängerparteien der SPD von solchen Gestalten wie Lasalle, bürgerlicher Salonlöwe und Rentier, von Schweitzer, Sprössling einer Patrizierfamilie, der die Partei mit den Lehren Machiavellis befehligte und die so gar nichts von innerparteilicher Demokratie hielten, vielmehr sich als Autokraten aufspielten und sich Preußen andienten. (Walter 2018, S. 10ff.)[3] Ein anderer Flügel wurde von Bebel und Liebknecht geführt, die für eine großdeutsche Lösung waren und den Arbeitern gleichzeitig die Beruhigungspille des unumstößlichen Geschichtsgang Richtung Sozialismus verabreichten, der angeblich auf dem wissenschaftlichen Sozialismus Marx‘ beruhte.

Das Sozialistengesetz trieb den neuen politischen Gegner der bürgerlichen Parteien anstatt auf die Barrikaden in die Vereinsmeierei, neue Gesangs-, Wander- und Sportclubs entstanden.(Ebd., S. 26) Nachdem die Sozialistengesetze aufgehoben waren, versuchte Bismarck mit den Sozialgesetzen den Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese protestierten anstandshalber nur kurz, um sich hernach auf die neu geschaffenen Posten in der Verwaltung zu stürzen und dort eine Übermacht zu gewinnen. Die SPD wurde zu einer Großorganisation mit einem überdimensionalen Funktionärsapparat innerhalb der Partei, der Sozialbürokratie und den Gewerkschaften, die Vergewerkschaftung trieb „die Sozialverkassung der Arbeiterbewegung voran.“(Ebd., S. 29 f.) Wo das sozialistische Selbstverständnis erhalten blieb, da nur als Identität zur Gegnerschaft der liberalen Eliten in den akademisierten Spitzenpositionen im Staatsapparat und in der Wirtschaft. Der Parteitheoretiker um 1900, Eduard Bernstein, formulierte ganz offen: „Ich […] habe für das [Partei-] Endziel des Sozialismus wenig […] Sinn. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“(Ebd., S. 33) Die Empörung der Sozialdemokraten war groß, aber verlogen, denn die Sozialismusidee war schon damals längst keines ihrer Ziele mehr, wurde aber als Selbstverständnis, als Trost und als erlösende Hoffnung noch gebraucht. Allerdings waren die Parteimitglieder noch nicht bereit für eine von inhaltlichen Zielen bereinigte Bewegung, wie dem Faschismus, der nur als Massensuggestion funktionierte. „Sozialismus“ wurde alsbald ausschließlich zur legitimierenden Doktrin im deutschen Obrigkeitsstaat, die neue Mitglieder unter den Arbeiten anziehen sollte. Unter Bebel, autoritärer „Kaiser der Arbeiterbewegung“, „war der Marxismus der wilhelminischen Sozialdemokratie ein Radikalismus der Phrase, der Sonntagsreden, der gemütvollen Erbauung, nicht der militanten Aktion.“(Ebd., S. 35)

Ab diesem Zeitpunkt war von der SPD bereits nichts mehr zu erwarten, sie wurde zum Steigbügelhalter von Kapital und Staat, und noch schlimmer: zu deren gutem Gewissen. Die Arbeiter waren zufrieden mit steigenden Löhnen und verringerten Arbeitszeiten. Im Jahre 1912 erreichte die SPD 35% aller Stimmen und wurde stärkste Kraft in Deutschland. Wenn man statt einer revolutionären Ablösung der morschen Produktionsverhältnisse tatsächlich eine demokratische wie Kühnert bevorzugte, wäre jetzt der Moment gewesen, dies in Angriff zu nehmen, stattdessen wurde die SPD zu einer Unterabteilung des Obrigkeitsstaats. Die Zeit des Funktionärs war endgültig angebrochen, Ebert und Scheidemann, machten aus der SPD die Partei der organisierten Kleinbürger, die das Bürgertum in Deutschland, also das Bildungsbürgertum, nachahmte mit ihren Partei- und Volkshochschulen, welche den Respekt vor Staat und Obrigkeit eher stärkten als schwächten.

Die Rolle der SPD bei der Vorbereitung des Ersten Weltkrieges ist bekannt: Das gute Gewissen Deutschlands organisierte zunächst Antikriegsdemonstrationen, um dann den Kriegskrediten, und damit faktisch dem Krieg, zuzustimmen. „Die Priester predigten von den Altären, die Sozialdemokraten, die einen Monat vorher den Militarismus als das größte Verbrechen gebrandmarkt, lärmten womöglich noch mehr als die andern, um nicht nach Kaiser Wilhelms Wort als ‚vaterlandsloser Geselle‘ zu gelten.“(Stefan Zweig: Die Welt von gestern 1968, S. 218). Der Obrigkeitsstaat und seine konservativen Eliten zeigten sich sogleich gnädig, alle Repressalien gegen die SPD waren vom Tisch und „[a]ls Belohnung für ihr vaterländisches Verhalten durften sie jetzt auch Staatsbeamte in die Partei aufnehmen und sogar in Kasernen sozialdemokratische Schriften verteilen.“ (Walter 2018, S.57) In der nun boomenden Kriegsindustrie waren die Arbeitsplätze gesichert, das Ende vom Lied war allerdings, dass an der Front vor allem die Arbeiter und Handwerker verheizt worden sind. Statt der solidarischen Menschheit durch die Hand des Proletariats wurde es zur Schlachtbank der Schützengräben geführt. Das konnte selbst die SPD nicht gewollt haben, aber die Fliehkräfte der Geschichte waren stärker, würden ihre Führer heute wie damals wohl antworten, schließlich standen auch die anderen europäischen Sozialdemokratien an der Seite ihrer Regierung und waren für den Krieg.

Da alle Ziele der SPD gescheitert waren, könnte man den Laden ja einfach auflösen. Das wäre ein vernünftiger Gedanke, aber wie Kühnert formulierte, dachten die Genossen schon vor 100 Jahren: „Wir haben ein Interesse daran, dass hier noch was übrig bleibt von diesem Laden. Verdammt nochmal!“ Aber warum? Die Antwort fällt schwer und ist wahrscheinlich doch ganz einfach, weil sie nun schon mal mitmachten, blieben sie einfach. Schließlich hingen Posten und Stellung, Geld und Macht, also alles, was am ehemaligen Gegner, der Bourgeoisie, kritisiert wurde, an der Existenz der SPD. Wie Franz Walter formulierte: „Die Arbeiter hatten plötzlich etwas zu verlieren.“ Das stimmte natürlich nicht ganz, war aber auch nicht komplett falsch. Ihre Funktionäre hatten etwas zu verlieren, die Arbeiter weiterhin nichts außer ihren Trost, den ihnen die Gemeinschaft der ganzen sozialdemokratischen Turn- und Wandervereine, die Chöre, Zeitungen, Volkshochschulen etc. spendeten. So kam es, dass es anstatt der Auflösung der Partei, über die Schmach des Einverständnisses zu einem imperialistischen Krieg, der Millionen Arbeitern das Leben kostete, es plötzlich zwei gab. Die (Mehrheits-)SPD machte weiter wie bisher, die neu gegründete (Unabhängige-)SPD war so etwas wie Die Linke von heute, nur das ihre Mitglieder aus wütenden Industriearbeitern bestanden, nicht aus akademisierten Wutkleinbürgern. Die MSPD bekam den Regierungsauftrag, bei der USPD liefen die Revolutionäre zur KPD über, viele von ihnen wurden schließlich auf Befehl des Bluthundes der SPD, Gustav Noske, bei Protesten zusammengeschossen. Mit der SPD an der Spitze schlingerte die Weimarer Republik in das Verderben, allerdings war die Macht der alten Eliten, aber auch der Respekt der SPD vor ihnen, einfach zu groß, um diese abzusägen. Deswegen zog sie sich ab Mitte der 1920er Jahre kontinuierlich aus der Regierungsverantwortung zurück, obwohl ihre Wahlergebnisse nicht schlechter wurden. Die Fliehkräfte der Geschichte waren wieder einmal zu stark für die SPD, vielmehr wurde die Partei zur letzten Hoffnung für diese Republik. Diese Hoffnung war aber unbegründet, 1932 ließ sich die SPD in Preußen, dem Freistaat, in dem sie die Regierung anführte, ohne Gegenwehr von einer Bande reaktionärer Rentner stürzen, die die Hohenzollern wieder an die Macht bringen wollten.

Die SPD tolerierte ab der Mitte der 1920er die Zentrumspartei als Regierung, um die NSDAP von der Macht fernzuhalten, ihre Anhänger nicht. Der Durchmarsch der NSDAP beruhte zu einem nicht unerheblichen Teil auf den Stimmen ehemaliger SPD-Wähler. Das Proletariat wählte braun und so kam es, dass aus dem angestrebten Sozialismus der erste Nationalismus in Deutschland als Nationalsozialismus entstand. Das Amalgam aus angedrehtem Nationalismus, der sich auf dem akademisch ausgehecktem Rasse- und Volkideologie im Gegensatz zur französischen Idee der Nation beruhte, und der Enttäuschung über die versandete Revolution entlud sich im Überlaufen zur NSDAP:

[D]eshalb ist der Terminus ‚Nationalsozialismus‘, der den einzigen erfolgreichen Nationalismus in der deutschen Geschichte bezeichnet, kein Etikettenschwindel, und es ist keine Demagogie, auf die Mitgliederfluktuation zwischen SPD, KPD und NSDAP hinzuweisen, weil dies ebenso eine historische Tatsache ist wie Mussolinis sozialistische Vergangenheit. Nicht die Idee des Sozialismus ist durch seine Verbindung oder zumindest personelle Verknüpfung mit dem NS widerlegt, sondern es ist damit nur bewiesen, was aus dem Sozialismus entstehen kann, wenn nichts aus ihm wird.“ (Pohrt 1981, S. 121)

Nachdem sich das Proletariat mit dem Scheitern der Maximalforderung nach Sozialismus durch die SPD bereits abgefunden hatte, es in der Weimarer Republik immer mehr verarmte, der Sozialstaat zusammenbrach und schließlich die SPD sich auch dem reaktionären Putsch fügte, und mit dem Fall der Republik auch die Minimalforderung dahin war, wählte es trotz der Warnungen in großen Teilen die NSDAP. Die machte mit dem großen Kladderadatsch tatsächlich ernst, den die SPD immer versprach. Die konservativen Eliten mussten in die zweite Reihe rücken, die Arbeiterbewegung wurde zerschlagen, bzw. Teil der NS-Bewegung. Die NSDAP versprach nicht einfach ein größeres Stück vom Kuchen, sondern allen Deutschen, dass sie Herrenmenschen sein durften, wenn der Raubzug durch Europa erfolgreich sein sollte. Sie versprach, was die SPD immer versprach, nur ohne Pazifismus und gesteigert zu einem fantastischen grausam-sadistischen Märchen, welches das Selbstwertgefühl der Deutschen aus den tiefsten Kellern in höchste Höhen katapultierte. Auch wenn die meisten Menschen nicht dauerhaft an dieses Märchen glaubten, schmeichelte es ihnen doch nach der ganzen Schmach, außerdem blieb ihnen nach der Machtübernahme des NS keine Wahl mehr. 1000jähriges Reich oder Untergang, eine Alternative blieb nicht mehr.

Der Rest der Geschichte ist bekannt, mit der Instrumentalisierung des Sozialismus war die SPD erfolgreich um den Preis ihrer Identität, diesen Erfolg als Regierungspartei während der Weimarer Republik bezahlte sie am Ende mit ihrer Existenz. Die Sozialdemokratie wurde zerschlagen. Dass die Sozialdemokraten im Gegensatz zum sogenannten bürgerlichen Lager nicht für Hitlers Ermächtigungsgesetz und somit für die Diktatur stimmten, war nur noch ein symbolischer Erfolg, wie so viele der SPD; wer nichts mehr zu verlieren hat, kann auch mal heroisch sein.

Nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland wurde die SPD wieder von den Toten erweckt, nur um eine Zombieexistenz im Zeitalter des Vergessens und Verdrängens unter Adenauer zu führen. Bekräftig wurde diese Existenz mit dem Godesberger Programm: Die SPD beschloss von einer Arbeitermilieu- zu einer Volkpartei zu werden. Damit verwirklichte die Partei, was sie bereits kurz vor der Machtübernahme des NS versucht hatte, um diesen mit einer sozialdemokratischen Kopie, den politischen Wind aus den Segeln zu nehmen. „Damit ging ein Stück sozialdemokratischen Selbstbewusstseins und Leistungsvermögens verloren: die Fähigkeit zur autonomen Organisation und Willensbildung.“ (Walter 2018, S.168) Oder anders, die schizophrene Identität, einerseits die Partei des Sozialismus sein zu wollen, und andererseits diesen erfolgreich verhindert zu haben, mit allen Konsequenzen, wurde endgültig entsorgt. Ab 1959 war man Volks- und Medienpartei der kleinen Leute, die CDU links von der Mitte. Und so wurde Willy Brandt, lange vor Schröder, als erster Medienkanzler der BRD aufgebaut und instruiert, Ping-Pong mit Glotze und Springer-Presse zu spielen. Die Bevölkerung war so konsterniert, dass sie „die beste CDU aller Zeiten“ (Ebd., S.179) gleich einmal wählte, der Zombie war entkernt und kam modern und ideologiefrei am bestens an. Die Parteitaktiker hatten den richtigen Riecher, Brand wurde zum beliebtesten Kanzler aller Zeiten, weil er mit allem seinen Frieden machte: NATO, Marktwirtschaft, den ganzen NS-Schergen in Politik und Wirtschaft und dem Ostblock. Brandt war der personifizierte Politiker der aufkommenden Friedens- und Ökobewegung in der BRD, das politische Erweckungserlebnis des neuen Deutschlands, das mit 1968 so richtig in Fahrt kam. Die SPD konnte es sich auch wieder leisten, einen linken Flügel zu integrieren, sozusagen als traditionales Subsystem, schließlich war es die Zeit der Planung und der Reformen als Krisenkonzept, die Systemtheorie war en vogue. Die SPD schien die neue Partei der nivellierten Mittelschicht, der grauen Masse der Arbeitnehmer zu werden, einen bunten Anstrich bekam sie, als sogar Prominente und Intellektuellen sich zur neuen Friedenspartei bekannten. Mit dem Ausbau der Bildung und des Staatsapparates hatte die SPD sich eine neue Wählerbasis geschaffen, sie war jetzt die Partei des öffentlichen Dienstes, der Erziehung und der Wissenschaft. (Ebd., S.207) Die SPD wurde so chic, dass sie auch wieder junge Leute anzog, die Karriere bei ihr machen wollten, sie zettelten einen Kultur- und Generationskampf an, den sie unter der Flagge des Marxismus segeln ließen. Diese Generation Schröder, Scharping und Co. war die Blaupause für Kühnert heute.

Der interne Kampf um die Ausrichtung der SPD und Karrierechancen, zusätzlich die Öl- und Wirtschaftskrise ließ die SPD die Reißleine ziehen, einer aus der Stahlhelmfraktion wurde installiert, ab 1974 hieß es Schmidt statt Brand. Ab 1982 begann die zweite dunkle Phase der SPD. Durch die eigenen inneren Spannungen kaum reaktionsfähig auf die nächste Wirtschaftskrise, kam mit Kohl der Neoliberalismus als neue Krisenlösungsideologie. Nicht gerade zufällig kamen in dieser Zeit, die von Brandt so getaufte Enkelgeneration langsam ans Ruder: Lafontaine, Scharping und Schröder. Sie standen für nichts, außer für sich selbst; genau das wurde jetzt gebraucht. Schröder und Lafontaine beherrschten das Ping-Pong mit der neuen Medienlandschaft perfekt und machten mit wohlkalkulierten Tabubrüchen gegen das Parteiestablishment, die Funktionärsmentalität und den letzten Parteitraditionen des guten Anstandes auf sich aufmerksam. Zunächst kam ihnen aber der Zusammenbruch des Ostblocks und der Anschluss der DDR in die Quere. Im Einheitstaumel versprach Kohl den nach Farbfernsehern und Bananen dürstenden Massen blühende Landschaften, während die SPD kein Rezept fand. Das fand sie erst wieder mit der totalen Zerfaserung der Arbeitnehmerschaft und ihrer Angst vor der marktfundamentalistischen Rhetorik der CDU/FDP-Koalition. (Ebd. 2018, S. 262) Ende der 1990er Jahre wollte der Mittelstand auf einmal den Sozialstaat wieder zurück: Gewählt haben sie dann dummerweise Schröder, der mit der SPD den alten Sozialstaat endgültig abriss, und zwar so, wie es sich die CDU niemals getraut hätte. Als zweiter Medienkanzler der Geschichte der BRD hatte er die dicksten Geschosse der Demokratie hinter sich, Bild-Zeitung und Glotze, wie er selber betonte. Der Waschmittelwahlkampf überzeugte immerhin 41% der Wähler, schließlich wurde er von einem Marketingunternehmen geführt, dass sich zumindest mit Zigarettenvermarktung auskannte. (Ebd., S.268) Propaganda und Reklame verschmolzen zur Kommunikation, wie es die Kritische Theorie versprochen hatte. Die Wähler bekamen, was sie verdienten: Die Agenda 2010 mit ihren Hartz-Gesetzen, Deregulierung, Steuersenkung für Reiche, Ausbau der Leiharbeit und die Förderung des Niedriglohnsektors, Ein-Euro-Jobs, Ich-AG usw. Von nun an wurden sie gefördert und gefordert; Deutschland war wieder zukunftsfähig, die Menschen am Ende. Erstmals war es gelungen, als Trost für die verpasste sozialistische Revolution den Arbeiter nicht etwa einen etwas größeren Anteil vom gesellschaftlichen Reichtum abzuschneiden, sondern ihnen wieder etwas abzunehmen, sie verloren Rechte und Anteile daran, es gab eine Vermögensumverteilung von unten nach oben. Der gesellschaftlich dumm gemachte Proletarier heißt vielleicht auch deswegen jetzt Arbeitnehmer, obwohl er die Arbeit gibt und nicht nimmt, bzw. gegen Lohn tauscht. Schröder konnte sie sogar noch ein zweites Mal für dumm verkaufen, indem er den sozialdemokratischen Friedenskanzler spielte, der sein Herz für Saddam entdeckte, und mit Gummistiefel am Elbhochwasser und der Unterstützung vieler Promis Sympathiepunkte gegenüber Stoiber sammelte. Fast wäre ihm das Kunststück noch ein drittes Mal gelungen, aber seine Niederlage läutete die dritte dunkle Phase der SPD ein, das scheinbar ewige Schicksal als Juniorpartner der GroKo. Schröder entschied sich folgerichtig für die Abrundung seiner Karriere als gut bezahlter Clown für Putins Oligarchenbande.

In Schröders Fahrwasser schwammen jetzt Figuren wie Steinbrück und Steinmeier, die Tüftler der Agenda 2010. Als Minister des Juniorpartners der CDU waren sie kaum vom Personal der Christdemokraten zu unterscheiden. Man hatte eher das Gefühl die GroKo ist eine neue Partei der Mitte, der Rest ist radikal. Als der SPD-Basis oktroyierte Kanzlerkandidaten überboten sie sich dann mit jeweils den schlechtesten Ergebnissen der Parteigeschichte seit 100 Jahren (Steinmeier 2009: 23%, Steinbrück 2013: 25,7%). Sie, die beliebigen Karrieristen und Opportunisten, ohne erkennbare Physiognomie oder Charaktereigenschaften, nicht mal die eines jovialen Kleinkriminellen besaßen sie, wie bspw. Schröder, waren die Gesichter eines beispiellosen Niedergangs der Sozialdemokratie. Schuld war weniger ihre Politik als vielmehr der Verlust eines Subjekts wie eines Objektes der Partei, niemand wusste, wofür die SPD steht und für wen sie eintrat. Es gab zur CDU, FDP, Linke, Grüne nur noch graduelle Unterschiede in den verschiedenen Sachthemen. Martin Schulz bekam dafür die Quittung, als kurzfristig eingesetzter Heiland aus dem EU-Paralleluniversum gestartet, legte er 2017 die größte aller Bruchlandungen hin: 20,5%.

Es war verrückt, nachdem die SPD den Sozialstaat auf die Grundversorgung der Existenz zusammengeschmolzen hatte und bei der Verwaltung dieses Erbes als Juniorpartner 12 Jahre mitwirkte, erfand sie sich neu, indem sie gegen sich selbst rebellierte. Ein genialer Schachzug, sie war von nun an wieder die Partei der kleinen Leute, sie forderte jetzt Mindestlohn und Rente mit 63. Dank schwacher Gegenkandidaten und der Nach-Mutti-kommt-Vati-Wahlkampfes stand zur Belohnung der Wahlsieg 2021. Dieser wird natürlich der Selbsterkenntnis des eigenen Niedergangs nicht zuträglich sein und lässt für die Zukunft der SPD Schlimmes befürchten. Man erreichte exakt das gleiche schlechte Ergebnis wie Steinbrück 2013, gewann aber diesmal, weil CDU und Grüne Kandidaten aufstellten, die bei den Wählern durchfielen. In einem Land mit jetzt 6 Parteien im Parlament ist die SPD nur eine Option unter diesen, und zwar eine, die das wohl schwächste politische Profil aufweist und auf Zufälligkeiten angewiesen ist, um gewählt zu werden. Diese Zufälligkeit war der Rückzug Merkels und der Phantomschmerz der Wähler nach der fehlenden GroKo für die am ehesten der alte Vizekanzler Scholz stand.

Die Revolution der Büroleiter

Noch mehr als zu Schröders Zeiten ist die SPD also darauf angewiesen, frühzeitig auf Trendthemen aufzuspringen, die aber vor allem in urbanen, akademisierten Schichten über die sozialen Netzwerke gesetzt werden. Da die SPD-Mitglieder, die oben ankommen in der Parteistruktur, mittlerweile genau aus diesem Milieu entstammen und nicht mehr aus denen von Gewerkschaft und Arbeitnehmerschaft, definieren sie ihr

Linkssein mittlerweile nicht mehr in erster Linie ökonomisch; auch Verteilungsfragen bewegten sie nicht primär. Ein diffus kulturelles, gemäßigt libertäres und rhetorisch kosmopolitisches Linkssein hatte um sich gegriffen. Gewichtiger als für gesellschaftliche Egalitätsformen fiel die Emphase für Gleichberechtigung, Minderheitenschutz, Genderpolitik aus.“ (Ebd., S.329 f.)

Die Spitze hat sich also von der Basis, die noch übrig ist, nicht nur entfernt, sondern komplett gelöst. Das ist genau der Ansatzpunkt, den Kühnert ausgemacht hat, er wollte den hippen Linken wieder das Klassenmodell als hippes Thema andrehen, und dadurch gleichzeitig Spitze und Basis zusammenbringen. Da weder Kapitalisten noch Proletariat auszumachen sind, schlüpft bei Kühnerts Vision die SPD als Zombiepartei in die Rolle des politischen Vertreters eines Zombiesubjekts, der Arbeiterklasse, und kämpft gegen einen Zombiegegner, die CDU, als Vertreter ihres Zombiesubjekts, den Kapitalisten. Nach uraltem und oft erprobtem Mustern hat Kühnert dafür wieder den Sozialismus aus der Mottenkiste geholt, der wieder das Ziel der Partei sein solle.

Sein Plan ist halb aufgegangen. Jusos und junge Parteilinke fanden, dass Sozialismus ein Primaidee ist und sich gut mit Gendergleichheit und Klimaschutz verträgt. Kühnert hatte damit eine Hausmacht aufgebaut, sein Direktmandat für den Bundestag holte er in Berlin-Schöneberg, dort wohnte die Zielgruppe, die er bediente. Von nun an kam niemand mehr an ihm vorbei. Arbeitslose, Prekariat und Arbeitnehmer konnten damit natürlich nichts anfangen, weil die SPD im wahrsten Sinne des Wortes gar nicht mehr deren Sprache sprechen kann; kaum jemand hat je gearbeitet. Die Stärke der SPD war lange Zeit, dass ihre Politiker aus dem Arbeitsumfeld ihrer Wähler kamen. Ab den 1970er Jahren als die Industrie- langsam der Dienstleistungsgesellschaft wich und die SPD-Politiker akademisiert waren, war dies vorbei, bis zur Generation Schröder konnte sie Idiom dieser Schicht allerdings noch simulieren. Danach war es auch damit vorbei, heute wird es schwierig jemanden in der SPD-Spitze zu finden, der jemals beruflich etwas mit der neuen Digitalwirtschaft zu tun hatte. Die neue Generation ist nämlich ausschließlich eine der Büroleiter, wie Walter es formuliert. (Ebd., S. 372)

Ein Großteil der Anwärter und Inhaber parlamentarischer Funktionen oder Spitzenämter in der SPD hat vielmehr nach der Schule und einigen Universitätssemestern als Mitarbeiter bei Abgeordneten, auch in Ministerialbüros gearbeitet, bis es in der Politik noch weiter aufwärtsging. Der Büroleiter in der Politik ist der berufliche Prototyp eines beachtlichen Teils der neuen Eliten in der SPD und in ihrem jungsozialistischen Nachwuchs, wie man prominent beim amtierenden Juso-Bundesvorsitzenden [Kühnert ist gemeint], auch bei seiner Vorgängerin [Nahles] sehen kann.“ (Ebd., S.372)

Das Verlieren der Sprache, die Umwandlung derselben in ein Amalgam aus Reklame und Propaganda, ist nun kein isoliertes Phänomen der politischen Klasse, die die Gesellschaft nicht mehr versteht, die sie repräsentieren will, sondern ein gesamtgesellschaftliches, da sich durch die Entfremdung vom Objekt kein solidarisches Subjekt konstituierte, welches sich wiederum bewusst zum Objekt verhält, d.h. der Aneignung der Natur und Wahl der Mittel dazu. Aber es stimmt schon, was Walter schreibt, die Kategorien zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, mögen sie bei der SPD auch nur heiße Luft gewesen sein, wie Klasse, Kapital, Konflikt, Machtverhältnisse sind verschwunden, aber nicht nur weil die Parteielite sich vom Arbeitermilieu entfernt hat, wie Walter meint, und über die Wut der herrschenden Verhältnisse verschwunden ist, sondern sich eben auch diese Verhältnisse, ausgehend vom Gegensatz aus Kapital und Arbeit, tatsächlich eingeebnet haben, die Klassen einer Angestelltengesellschaft mit funktionaler Schichtung gewichen ist.

Wie ab den 1970ern die SPD-Granden den Arbeiterführer simulierten, simulieren die Arbeitslosen, die prekär Beschäftigten, oder die sich zurecht als ohnmächtig Erfahrenden den Klassengegensatz nur noch. Der Phantomschmerz des gescheiterten Klassenkampfes spaltet heute die Gesellschaft in eine sich selbst als Elite wahrnehmende Fraktion – nie können in der Realität aber so viele zugleich Elite sein, deshalb ist es zu größten Teilen eine Selbstzuschreibung – und in die deplorables, die gegen das Establishments sind und wie Kinder gegen eher ephemere Sachen, wie die Corona-Maßnahmen demonstrieren, um ihre Anti-Establishment-Haltung auszudrücken. Schon vor 40 Jahren waren diese Tendenzen auszumachen:

Die Indifferenz dieses Kampfes gegen das besondere Objekt – dies ist der Gehalt des Begriffs 'Establishment' – machte nur Ernst mit der richtigen Erkenntnis, dass der Klassenfeind personell nahezu unidentifizierbar geworden ist, seit selbst das Proletariat zum Komplizen und Teilhaber, zum Juniorpartner seiner Unterdrücker wurde, welche die Dritte Welt ausplündern. (Pohrt 1981, S.34)

Das Fehlen der von den sozial-ökonomischen Verhältnissen konstituierten Sozialgemeinschaften und ihren daraus fast logisch ergebenen Zielen und Interessen, also des Milieus, die Walter für das Zusammenbrechen der Sozialdemokratie ausmacht, sind also nur die Symptome dafür, dass das Kapital keinen Gegensatz mehr kennt, dass das Proletariat Teil desselben geworden ist, es sich durch die Sozialdemokratie also nicht einmal mehr in die Irre führen lassen kann. Vielleicht ist das ja ein Fortschritt, immerhin. Denn der heutige Riss der Gesellschaft, dass sieht Walter wieder ganz richtig, geht mitten durch das Wählerpotential der SPD hindurch, deplorables auf der einen Seite, Establishment plus Möchtegern-Elite auf der anderen Seite. Das von Marx erweiterte Hegelsche Bonmot, dass sich alle Ereignisse der Weltgeschichte zweimal ereignen, zunächst als Tragödie, dann als Farce, findet hier seine Bestätigung. Der heutige Riss der Gesellschaft ist nur eine lächerliche Variante des Klassenkampfes, mehr einem Verteilungskampf um Beute und Anerkennung innerhalb einer Bande ähnlich, aber mit den albernen Mitteln des Trotzes und verblödeten Ventilieren von alternativen Wahrheiten. Selbst das von Eribon bis Ernaux beklagte Überlaufen der deplorables – in Deutschland übrigens umfasst diese Gruppe auch Menschen aus der upper middle class, die denken, durch ihren unbeugsamen Willen von noch höheren Posten abgehalten worden zu sein - zu den Rechten kann man eigentlich nicht wirklich ernst nehmen. Der Konservatismus bspw., der von der AfD vertreten wird, verhöhnt diesen nur, in dem er ihn schlecht simuliert bzw. instrumentalisiert, er gibt das Ziel vor, um überhaupt eines zu haben. Mit Christen- und Deutschtum oder sogar Patriarchat können weder Mitglieder noch Wähler der AfD wahrscheinlich mehr etwas anfangen.

Im Spätkapitalismus breitet sich die Simulation des Lebens in allen Facetten aus, vom Klassenkampf bis zum Berufsalltag eines Politikers. Das war auch der allererste Eindruck beim Sehen der Kühnert-Doku. Den Gesprächen – oft in der verstümmelten Sprache der Sprachlosigkeit vorgetragen - den Diskussionen, Abstimmungen, Reden, dem Wahlkampf war etwas Unwirkliches anzumerken, als wenn alles nur gespielt, simuliert ist. Die Akteure wirken nicht bei der Sache, weil es gar keine Sache mehr gibt, alles wird für den Erfolg getan, ohne zu wissen warum. Es ist tatsächlich eine Farce. Der Politikbetrieb, dem die Doku ja so nah wie möglich kommen möchte, dem sie das Echte abtrotzen will, wirkt, umso näher es an den Menschen und Themen dran ist, umso verstellter, mehr wie die Nachstellung der Wirklichkeit und die Simulation von Politik. Das Leben lebt in der Politik erst recht nicht, sie ist zur Simulation von Politik geworden, die Diskussion ein Ritual, wie die Demokratie; wie das Leben hat die Politik eine Zombieexistenz angenommen. Der Wahlsieg der SPD dient nicht der Abschaffung des Kapitalismus durch den Sozialismus, vielmehr gilt diese Vorstellung völlig zurecht als lächerlich, dieser Sieg ist nicht der Aufbruch, er ist nicht einmal mehr ein Zucken nach dem Ableben, sondern die Wiedererweckung eines Toten, ohne Geist und Willen, dafür mit einer nie gekannten politischen Flexibilität, die die Leichenstarre fröhlich hinter sich gelassen hat. Umso lächerlicher, wenn Kühnert vom Sozialismus redet, der durch die Demokratie erreicht werden soll, aber egal was er erzählt, er hat alles richtig gemacht, nachdem Bundestagmandat hat er schließlich auch noch den Posten des Generalsekretärs der Partei abgegriffen. Für die SPD kommt es jetzt darauf an, ein ähnliches Profil zu gewinnen wie ihre Koalitionspartner, die die Modernisierung des Landes mit solchen Mottos versehen wie Freiheit oder Klimaschutz, wie wäre es mit: sozialer Gerechtigkeit? Lächerlich? Ausgelutscht? Perfekt!

 

[1] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/ard-doku-kevin-kuehnert-wie-er-in-der-spd-die-strippen-zieht-17591038.html

[2] https://www.zdf.de/nachrichten/heute/kritik-an-juso-chef-kevin-kuehnert-will-bmw-kollektivieren-100.html

[3] Franz Walter 2018: Die SPD, Biographie einer Partei. Alle hier aufgeführten geschichtlichen Ereignisse sind aus diesem Buch übernommen.

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