Vis a tergo?

Vis a tergo ist lateinisch und bedeutet, die Kraft hinter dem Rücken und war ein geflügeltes Wort im 19. Jahrhundert. Der Name “vis” ist bereits verräterisch, weil er anzeigt, dass nicht so recht begriffen werden kann, was damit benannt ist. Denn eine Kraft bleibt stets zumindest im Halbdunklen, ihre Herkunft oder Ursache kann nie restlos aufgeklärt werden, bleibt physikalisches Konstrukt oder verliert sich in der Unendlichkeit vorhergehender Ursachen. Nicht umsonst spricht man von dunklen Kräften in dunkler Materie und schwarzen Löchern. Vielleicht ist die Bezeichnung “Kraft” nur ein psychologischer Trick, der unbekannten Ursache einen Namen, und damit dem gefürchteten Unbekannten den Anstrich des Bekannten zu geben, wie bereits Nietzsche vermutete. Denn ist das Unbekannte erst einmal benannt, so ist seine fremde Bedrohlichkeit in einen Namen gebannt und damit scheinbar gebrochen – auch wenn eine solche Ursache einfach nur zu einer “Kraft”, welcher Art auch immer, getauft wird. Potentiell kann diese Kraft durch Denken und Analyse in den Kontext des Begreifens, in den Begriff gehoben werden. Am Anfang steht also der Name, die Identifikation eines ins Bewusstsein drängenden Etwas. Seine Aufklärung und Reflexion, das Begreifen, ist aber durch den Namen nur geebnet, nicht garantiert.

Aber dann wirkt diese Kraft – das Benannte aber nicht Erkannte – auch noch a tergo, hinter dem Rücken, d. h. außerhalb des Sichtfeldes, der Wahrnehmung oder gar des Bewusstseins. Wie kann aber etwas ins Bewusstsein drängen, ohne bewusst zu sein? Nur indem es als etwas Fremdes erfahren wird, insbesondere als Leid ohne Grund, dessen Ursachen unbekannt ist, und erst bekannt gemacht werden muss, indem es vom Unbewussten in das Bewusste verwandelt wird. Diese Erfahrung ist der Motor der Wissenwollens, um zu negieren. Sie gebiert den Kopf der Leidenschaften, der diese Kraft begreifen will, um sie zu kritisieren und aufzuheben. Diese Kraft war alsbald als gesellschaftliche Herrschaft erkannt, die sich ohne Wille und Bewusstsein aus ungleichen Einzelinteressen zu einem unpersönlichem Ungeheuer verwandelt hatte. Dieses Ungeheuer aber ist ein Meister der Verschleierung, dass seinen Organen, den Einzelnen, immer wieder ein falsches Bild von sich vermittelt. Es kann also nicht erkannt, ohne zugleich negiert zu werden. Mit “vis a tergo” war nur der Anfang gemacht, war das gesellschaftliche Treiben der Zeit intuitiv benannt, ohne die Ursachen zu kennen, geschweige denn sie zu beseitigen.

Vis a tergo fasste verschiedene Versuche zusammen, zu erklären, warum bei aller Aufklärung und dem Anbruch der Moderne und seinen Verheißungen die sich herauskristallisierende menschliche Gesellschaft als nicht steuerbar erwies, und schon gar nicht als beherrschbar nach Maßgabe der Vernunft. Sie blieb ein ewiges Rätsel, obwohl sich die Klügsten ihre Köpfe zerbrachen. Die offensichtlichen Gegner einer vernünfigen Gesellschaft konnte man bekämpfen, und man tat es ja. Ihre zukünftigen Mitglieder hatten das Ancien Régime zum Teufel gejagt, die Kirche zur Säkularisierung gezwungen und die Macht, den neuen Nationalstaat, unter das allgemeine Recht subsumiert. Die unsichtbaren Kräfte aber blieben unfasslich, hier und da wurden die personifizierten Symptome bekämpft, ihre Ursache aber blieb unangetastet, gerade weil die Vernunft nur soviel von der Sache erkennen kann, wie sie selbst in sie hineinlegt, wie Kant es formulierte. So entpuppte sich der Sonnenaufgang, den die Menschheit noch nie zuvor gesehen hatte, nicht als Anfang der Verwirklichung aller Hoffnungen, sondern als deren Ende. Das Motiv des vis a tergo findet man in vielen Theorien als ihren impliziten Kernpunkt in unterschiedlichen Variationen der Kapitulation vor der Realität wieder: bspw. als gottgegebene Affirmation durch Smiths invisible hand, als ansteckenden Zweckoptimismus in Hegels Weltgeist, der sich wenigstens durch die List der Vernunft verwirklichen soll, als Verdinglichung gesellschaftlicher Beziehungen in Marxens Kritik des Wertes, als Fatalismus in Nietzsches amor fati.

Meine Beiträge knüpfen, zugegebener Maßen auf bescheidenen Niveau, an diese Thematik lose an, sind Versuche, die Kapitulation vom schwarzen Loch des Internets verschlingen zu lassen. Vielleicht übernehmen ja bald Bits und Bytes, Chips und Module das schmutzige Geschäft der Revolution, denn wenn Computer wirklich bald denken können, wäre das die notwendige Folge, sozusagen die Bestätigung der historischen Gesetzmäßigkeiten der Marxisten a tergo; beides scheint mir gleich (un)wahrscheinlich. Falls das jemand tatsächlich liest: Meinungen sind willkommen und werden erwidert, wenn es Sinn macht.